von Sergey Lagodinsky
Es geht um Minderheiten, imperiale Bestrebungen und Hass. Gerade deswegen geht es auch die Juden hierzulande an.
Der ethnische Chauvinismus prägt den Konflikt zwischen Georgien und seinen Völkern seit dessen Ausbruch Anfang der 90er-Jahre. Schon der erste Abspaltungsversuch Südossetiens war auch eine Reaktion auf die Politik des Staatschefs Gamsachurdia, der von einem Großgeorgien träumte und dabei den kleinen Bergvölkern nicht nur ihre Regionalautonomie, sondern auch ihre nationale Identität absprach. Jahrelang schaukelte sich der gegenseitige Hass hoch. Nach der prowestlichen Rosenrevolution in Tiflis kamen dann aus Russland chauvinistische Töne. Die antigeorgische Stimmungsmache gipfelte in einer Kampagne gegen »illegale Zuwanderer« im Herbst 2006, durch die zahlreiche Menschen georgischer Abstammung ins Visier der medialen Hetze und der staatlichen Überprüfungs- und Abschiebemaßnahmen geraten sind. Zwei Georgier starben in Haft noch vor ihrer Ausweisung.
Hass und Fremdenfeindlichkeit kommen selten allein, wenn es um große Staaten und kleine Völker geht. Auf beiden Seiten erkennt man expansionistische, ja im- periale Gelüste. Für den machtbewussten georgischen Präsidenten Saakaschwili geht es um die Erhaltung seines Kleinreichs mit allen Mitteln. Für das wiedererstarkte Russland um die Anknüpfung an die Großmachttradition der Zaren und der Sowjets. Fast gespenstisch erscheint der Tod Alexander Solschenizyns nur wenige Tage vor dem Krieg, ist doch der große Schriftsteller in seinen letzten Jahren zum Schattenideologen und zur Symbolfigur des intellektuellen russischen Nationalismus geworden.
Wo ethnischer Hass und imperiale Ambitionen zusammentreffen, ist auch die Vernichtung nicht mehr weit. Zumindest ist rasch die Rede davon. Das Wort »Genozid« macht im Konflikt zwischen Russland und Georgien die Runde, ein Begriff des jüdischen Juristen Raphael Lemkin, der seine gesamte Familie im Holocaust verloren hatte und dem es gelang, die Vereinten Nationen von der Notwendigkeit einer Völkermordkonvention nach dem Zweiten Weltkrieg zu überzeugen. Nach diesen Kriterien kann in der Grenzregion zwischen Georgien und Russland von einem Völkermord keine Rede sein, auch wenn es wohl – schlimm genug! – ethnische Säuberungen gegeben haben mag. Durch den häufigen Gebrauch des Wortes Genozid zur Rechtfertigung militärischer Intervention wirft aber der Holocaust indirekt seinen historischen Schatten und wird, wie so häufig in den vergangenen Jahrzehnten, politisch instrumentalisiert.
Die Schwierigkeit im Kaukasus besteht darin, dass sich die Konfliktparteien in ihren Dimensionen des Hasses, des Imperialismus und der Vernichtungsverdächtigungen gegenseitig spiegeln. Angesichts dieser moralischen Gemengelage überrascht es kaum, dass es keine einheitliche »jüdische« Positionierung gibt. Zwar haben sich führende politische Vertreter der Juden in Russland (vom Kongress jüdischer Gemeinden bis zum Weltkongress russischsprachiger Juden) proossetisch und damit prorussisch positioniert. Doch gibt es auch andere Stimmen, wie die der Leiterin der Stiftung »Holocaust«, Alla Gerber, die eine solche Deutung des Konflikts zurückweist.
In der Tat sollte man sich vor falsch verstandenen Loyalitäten und vorschnellen Urteilen hüten. Denn fehlerhafte Informationen und Propaganda bestimmen die Diskussion auf beiden Seiten. Bedauerlich ist insbesondere, dass mit der Kampagne in der russischen Politik und den Medien nun auch russische Juden zunehmend antiwestliche, vor allem aber antiamerikanische Positionen beziehen. Wer jedoch heute antiwestliche Slogans skandiert und Verschwö- rungstheorien nachplappert, wird schon bald sein blaues Wunder erleben, auch in Bezug auf andere Regionen der Welt.
Erste Anzeichen dafür sind die aufgekommenen Spannungen zwischen Moskau und Jerusalem über israelische Waffenlieferungen an Georgien sowie Gespräche über eventuelle russische Marinebasen in Syrien. Wenn vorangetrieben, wird die neue Grenzziehung zwischen Ost und West auch durch den Nahen Osten gehen. Bedachte und kritische Medienwahrnehmung ist daher vonnöten. Das gilt auch für die zahlreichen russischsprachigen Juden in Deutschland, die ihre Informationen vorwiegend aus russischen Fernsehberichten beziehen. »Die Vernunft, wenn nicht Ehre, gebietet, dass wir Europa in Tiflis retten«, schrieb vor Kurzem der französische Autor und Philosoph Bernard-Henri Lévy. Wir müssen aber erst einmal die Vernunft retten. Egal, auf welcher Seite man steht – ob auf georgischer oder russischer.
Der Autor ist Jurist und Publizist in Berlin. Weiteres zum Kaukasus-Konflikt auf den Seiten 6 und 19.