Herr Nádas, immer häufiger liest man in letzter Zeit von Übergriffen Rechtsradikaler in Ungarn gegen Juden, Roma und Homosexuelle. Erkennen Sie Ihr Land eigentlich noch wieder?
Ja, doch. Ich wusste schon immer, dass es in der Tiefe brodelt, dass es da Probleme gab, über die man nicht sprach, die nicht kommuniziert wurden. Die sind alle jetzt zum Vorschein gekommen, und zwar aus einem ganz unglücklichen Anlass. Der ungarische Staat hat nicht nur mit großer Mühe knapp den Bankrott vermieden, er existiert auch nicht mehr. Ich habe gerade gelesen, dass eine unserer Polizeigewerkschaften eine Vereinbarung mit den Rechtsextremisten getroffen hat. Da braucht man sich dann nicht zu wundern, wenn die Polizei nach Attentaten gegen Zigeuner oder andere Minderheiten keine Täter findet.
Wie ernst ist die Lage?
Der Staat funktioniert nicht. Er ist zerfressen von Korruption. Diese Korruption ist in den letzten zwanzig Jahren nicht schwächer, sondern stärker geworden. Das ist ein zweites Wirtschaftssystem geworden. In diesem Zeitraum hat das Land auch einen enormen technischen Fortschritt erlebt, die ganze Infrastruktur hat sich verändert, und es gibt auch inzwischen viele wohlhabende Menschen und Familien, eine kleine Schicht der Reichen, sogar Superreichen. Sie haben ihre Unternehmungen, ihre Häuser und Schlösser gebaut. Aber dazwischen gibt es keine Straßen, keine Verbindungen mehr. Alles, was früher zum Gemeinwesen gehörte, zerbröckelt, und deswegen ist die Unzufriedenheit sehr groß geworden. Alle bisherigen Regierungen tragen dafür die Verant- wortung, aber davon wollen sie natürlich nichts wissen. Der Staat ist sozusagen zusammengebrochen.
Das heißt: Die demokratischen Strukturen, die nach der Wende geschaffen wurden, haben sich letztendlich nicht durchgesetzt?
Sie sind gescheitert, mit mir zusammen. Ich scheitere fast jeden Tag, und ich kämpfe auch nicht mehr, weil sich das nicht mehr lohnt. Diese demokratischen Strukturen bei uns sind von einem Netzwerk korrupter Leute ausgenutzt worden, ganz einfach.
Haben die Parteien in Ungarn in der Vergangenheit zu viel versprochen?
Die Parteien überall versprechen immer zu viel. Das ist eine ganz große Schwäche der Demokratie. Die Politiker haben in dieser Phase vergessen, aufrichtig über die Lage der Nation zu sprechen. Das ist aber eine allgemeine Erscheinung. Das Besondere bei uns ist, dass eine Gesellschaft in Gang gehalten werden muss, die nicht über eine funktionsfähige Mittelschicht mit Besitz verfügt. Dieses Kunststück hat die ungarische Gesellschaft nicht vollbracht. Allem Anschein nach gelingt es nicht, eine bürgerliche Mittelschicht bei uns aufzubauen. Verantwortlich hierfür sind auch unsere westlichen Nachbarn, die mit ihren großen internationalen Konzernen diese Lage bei uns auch ausgenutzt haben. Jetzt verlassen diese großen Unternehmen das Land.
Ist der nach 1989 in Ungarn eingeleitete Reformprozess stecken geblieben?
Ja, er ist stecken geblieben, beziehungsweise er hat überhaupt nicht stattgefunden. Zum Beispiel ist das Renten- und Gesundheitssys-tem nicht reformiert worden. Das verschlingt jetzt eine Menge Geld. Man muss sagen: Diese Wende zu einer bürgerlichen Gesellschaft ist schon im ersten Anlauf nicht gelungen. Ich bin aber nicht ganz hoffnungslos, weil ich sehe, dass ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ganz ernsthaft arbeitet und nicht diese verschwenderischen, korrupten Ideen teilt. Also habe ich Hoffnung, dass man noch eine Möglichkeit hat, in eine andere Richtung zu gehen und nicht in den Selbstmord.
Hat die lange regierende Linke versagt?
Ja, total versagt. Auch die Liberalen. Sie sind alle korrupt. Wir stehen vor Parlamentswahlen, und man weiß wirklich nicht, wen man wählen soll. Wenn ich aber nicht zur Wahl gehe, unterstützte ich damit die Ultras, die Extremisten.
Denen scheint es gelungen zu sein, in Ungarn so etwas wie eine revolutionäre Situation zu schaffen.
Wir befinden uns am Rande dieser Situation. Die Rechtsextremisten beherrschen die Medien und den öffentlichen Diskurs. Ich kann nicht aus der Wohnung gehen, ohne ihre schrecklichen Parolen zu hören oder zu sehen.
Ist das geballter Hass, der sich da breitmacht, Hass als ein selbstständiger atmosphärischer Faktor im Alltag?
Das ist einfach Dummheit, eine Dummheit, die man nicht ansprechen kann. Hass allein erzeugt noch nicht zwangsläufig so viel Schlechtes. Aber Hass mit Dummheit gepaart – das ist schon gefährlich.
Sehen Sie historische Parallelen zum Faschismus der 30er-Jahre?
Das ist eindeutig, überall eindeutig. Das kann man auch in Deutschland beobachten.
Aber hier gibt es einen demokratischen Konsens gegen die Rechtsradikalen. Wäre so etwas auch in Ungarn möglich?
Zurzeit nicht. Auch deswegen nicht, weil die rechte Opposition auf Stimmenfang aus ist.
Bevorzugtes Angriffsziel der Rechtsextremisten bei Ihnen im Land sind die Roma. Haben die demokratischen Kräfte in Ungarn ein Konzept für den Umgang mit diesen zehn Prozent der Bevölkerung ?
Nein, es gibt keine Konzeption. Die Zigeuner sind die Ersten, die in der Krise ihre Stellen verlieren. Sie haben keine Möglichkeit, zu arbeiten. Sie leben abgeschieden auf dem Land an den Rändern der Dörfer in Ghettos. Um das Problem zu lösen, braucht man eine blühende Wirtschaft, deren Reste dann auch den Zigeunern zugute kämen. Aber eine nicht-existierende Wirtschaft schafft das nicht.
Was ist bei den Ungarn von der Europa-Euphorie geblieben?
Es gab nie eine Europa-Euphorie. Es war eher eine Vernunftehe, und man wusste, welche negativen Seiten das hat. Aber man wusste auch, dass es der einzig gangbare Weg war. Ein Teil der Bevölkerung – etwa 6o Prozent – hat sich gefreut, als wir Mitglied der Europäischen Union wurden. Aber das ist inzwischen zum Teil vorbei und hat einer eher feindseligen Haltung Platz gemacht.
Hört man auf Sie oder andere Autoren wie Péter Esterházy oder György Dalos?
Nein, wir sind Verräter. Man schreibt darüber, dass Esterházy und ich das Land verraten. Das lese ich jede Woche ein- oder zweimal. Im Fernsehen und im Rundfunk wird das auch gesagt.
Welche Konsequenzen hat das für Sie persönlich?
Es hat mein Leben nicht leichter gemacht. Aber ich nehme es hin. Ich habe meine Meinung geäußert. Ich bin Demokrat und war es auch schon vor dem Mauerfall. Ich habe meine Meinung auch damals geäußert. Ich habe eine Diktatur durchgemacht, gemeistert, und ich werde auch diese Situation jetzt meistern.