von Rabbinerin Elisa Klapheck
Mischpatim bedeutet in Hebräisch »Rechtssätze«. Die Parascha folgt direkt nach der Offenbarung der Zehn Gebote am Berg Sinai. Tatsächlich lesen wir in Mischpatim einen Widerhall der Zehn Gebote, nun jedoch bezogen auf eine konkrete Realität – auf die archaische Gesellschaft der israelitischen Stämme. Die Parascha enthält Rechtsvorschriften zu den Bereichen Sklaverei, Jugendgewalt, Götzendienst, Diebstahl und Zerstörung, Mord und Körperverletzung, darüber hinaus soziale und kul- tische Gesetze, sowie das berühmte Talionsprinzip: »Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hand um Hand, Fuß um Fuß, Brandmal um Brandmal, Wunde um Wunde, Beule um Beule.« (2. Buch Moses 21, 23-25)
Trotz des unverkennbaren Echos auf die Zehn Gebote erscheinen die langen Gesetzeslisten in Mischpatim auf den ersten Blick eher chaotisch. Sie wirken wie ein Sammelsurium von Themen ohne geordnete Struktur: von allem etwas, ohne jedoch das jeweilige Rechtsgebiet ganz abzudecken. Man fragt sich, was wohl den roten Faden bildet, der die vielen Vorschriften zu einer zusammenhängenden Parascha schnürt. Einen Hinweis bekommen wir erst am Ende der Lektüre, wenn Mosche diese Parascha als das Sefer Habrit, »das Buch des Bundes«, bezeichnet und das Volk es durch Mehrheitsbeschluss verabschiedet. »Darauf nahm er (Mosche) das Buch des Bundes und las es dem Volke vor; und sie sprachen (24,7): Alles, was der Ewige geredet hat, wollen wir tun und darauf hören.« Offenbar bildete Mischpatim ein eigenständiges Buch.
Dank der kritischen Bibelanalyse wissen wir, dass die Tora verschiedene Traditionen aus verschiedenen Zeitaltern miteinander verbunden und zu einer ver- schmolzen hat. Auch die Rechtsvorschriften in Mischpatim bildeten eine eigene Tradition, ein eigenständiges Buch. Aber nach welchem Prinzip ist dieses Buch eigenständig und möglicherweise vollständig? Auf keinen Fall reichten die Rechtssätze aus, um einen vollständigen Kult zu etablieren oder eine Gesellschaft zu formen. Die Antwort liegt im Charakter des »Bundes«. Das Sefer Habrit enthält alle zu seiner Zeit neuen Gesetze – alle neuen Grundsätze, die von jetzt an, also nach der Befreiung aus der Sklaverei, normativ die israelitische Gesellschaft bestimmen sollten. Jedes einzelne Gesetz stellte in sich eine Erneuerung, einen Chidusch dar. Der »Bund« war danach ein Bund aufgrund von juristischen Innovationen.
Drei Themen fallen dabei ins Auge: Den Auftakt des Sefer Habrit bildet der Rechtsstatus der Sklaven. »Wenn du einen hebräischen Knecht kaufst, so soll er sechs Jahre dienen, im siebenten aber unentgeltlich in die Freiheit entlassen werden.« (21,2) Kein archaischer Gesetzeskodex begann, wie es das Sefer Habrit tut, mit den Rechten der Sklaven, keiner machte sich ein solch hohes Maß an kritischer Sensibilität zum Ausgangspunkt aller weiteren Rechtsüberlegungen. In der politischen Hierarchie stehen im Sefer Habrit die Richter über dem König oder den Stammesoberhäuptern. Mischpatim nennt die Richter sogar Elohim (21,6 und 22,7-8) und unterstreicht damit, dass die Durchsetzung von Recht und Gerechtigkeit einen göttlichen Ursprung hat, dass sie höher steht als die Gewalt des politischen Souveräns.
Mit dem Talionsprinzip (21, 23-25), das heute so oft als Prinzip der Rache missverstanden wird, bewirkt Mischpatim überdies eine Revolution in der Geschichte der Jurisprudenz. Bis dahin hatte der Geschädigte das Recht, die an ihm begangene Straftat selbst zu rächen. Das lex talionis jedoch bedeutete den ersten Schritt, die Vollstreckung der Strafe zu verlegen. Nicht mehr das Opfer selbst, sondern ein neutrales Gericht sollte über das Maß der Strafe bestimmen. Das Talionsprinzip verpflichtete das Gericht, eine dem Schaden entsprechende Strafe zu verhängen. Es versicherte gleichzeitig dem Geschädigten, dass das ihm geschehende Unrecht angemessen bestraft wird. Für die spätere talmudische Diskussion bildete es die entscheidende Voraussetzung, um die Strafe in eine finanzielle Entschädigung umzuwandeln (Babylonischer Talmud, Bava Kama 83b-84a).
Dies sind drei markante Beispiele für den neuen Geist, der die israelitische Jurisprudenz nach der Erfahrung von Sklaverei und Exil bestimmte. Für uns Juden ist es wichtig zu verstehen, dass die Tora selbst nicht nur eine erneuernde Dynamik enthält, sondern mit dem Sefer Habrit einen Weg einschlägt, der Ja zu besseren Gesetzen sagt und im Talmud weitere Rechtsentwicklungen ermöglichte. Die für das Sefer Habrit leitenden Gesichtspunkte – Freiheit, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit – haben bis heute nichts von ihrer Notwendigkeit eingebüßt. Auch wenn im demokratischen Rechtsstaat Sklaverei und Selbstjustiz gesetzeswidrig sind und sich die einzelnen Rechtssatzungen von Mischpatim auf eine archaische Gesellschaft beziehen, erkennen wir in ihnen menschliche Affekte wieder, die in den damaligen Menschen wie auch in uns selbst vorhanden sind.
Die Autorin ist Rabbinerin der Gemeinde Beit Ha’Chidush in Amsterdam und des Egalitären Minjans in Frankfurt am Main.