von Ingo Way
Am vierten Tag reißt plötzlich das Segel. Die Passagiere, die sich vor dem anrückenden Gewitter in der warmen und trockenen Schiffsmesse verkrochen haben, müssen nun bei Sturm und Regen an Deck, um der Mannschaft beim Flicken zu helfen. Für die meisten fast eine Erholung nach all den hitzigen Diskussionen.
Sechs Tage lang sind sie gemeinsam auf der Ostsee unterwegs, auf der »Großherzogin Elisabeth«: 13 Israelis und 13 Deutsche – Wissenschaftler, Journalisten, Mitarbeiter von NGOs, eine Ärztin, ein Winzer –, alle zwischen 30 und 40 Jahre alt. Auf Einladung des Auswärtigen Amtes, der Bertelsmann-Stiftung und des Goethe-Instituts sind sie zusammengekommen, um zu segeln, zu diskutieren und einander kennenzulernen. »Gemeinsam Segel setzen« heißt das Projekt programmatisch. Als am Samstag im holsteinischen Luftkurort Grömitz die Journalisten zusteigen dürfen – von einem Schlauchboot der Küstenwache nicht ganz trockenen Fußes an Bord des Dreimastschoners gebracht –, hat sich längst eine verschworene Jugendherbergsatmosphäre eingestellt. »Wenn man eine Woche lang so eng aufeinanderhockt, alles gemeinsam macht, bis spät in die Nacht diskutiert und feiert, bleibt es nicht aus, dass man ein Gemeinschaftsgefühl entwickelt«, meint Osnat, die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung die israelische Gruppe zusammengestellt hat.
Los ging die Fahrt in Warnemünde. Da fremdelte man noch ein wenig. Manche der Israelis waren zum ersten Mal in Deutschland, nicht wenige haben Opfer der Schoa in ihrer Familie. »Für mich ist der Holocaust schmerzlicher Teil meines Lebens«, sagt Iris, die in Tel Aviv eine Kultureinrichtung leitet. Unter der Leitung von Michael Maynard, einem britischen Gruppencoach, kommen die jungen Leute sich bei Kennenlern- und Vertrauensübungen allmählich näher.
Dann wurde in Kopenhagen Station gemacht. Dort erzählte ihnen Rabbiner Bent Melchior, wie er 1943 als 14-Jähriger aus Dänemark nach Schweden geflohen ist. Weiter ging es nach Gilleleje in Seeland, dessen Bewohner damals die flüchtenden Juden in ihren Häusern und der Dorfkirche versteckt und Geld für deren Überfahrt nach Schweden gesammelt haben.
Die Crew bemüht sich unterdessen, echte Seeleute aus den Passagieren zu machen. Oberer Ausholer, Unterer Einholer, Oberer, Mittlerer und Unterer Gording – viel Zeit bleibt nicht, um die Fachbegriffe aus der Segelsprache zu lernen, stehen doch die intensiven Diskussionen im Vordergrund. Ein immerwährendes Thema: der Iran und die atomare Bedrohung. Die Israelis halten es für die Pflicht der Deutschen, hier an der Seite Israels zu stehen und sich notfalls an einem militärischen Eingreifen zu beteiligen. Die deutschen Teilnehmer ziehen sich hier gern auf formale Argumente zurück: Das würde das Grundgesetz gar nicht zulassen. Außerdem herrscht bei ihnen die Tendenz vor, das Ganze als einen iranisch-israelischen Regionalkonflikt zu sehen, in den man sich nicht einmischen will. »Wir haben aus unserer Geschichte gelernt, dass wir nie wieder an einem Angriffskrieg teilnehmen wollen«, heißt es. Die Diskussionen wurden »sehr emotional, sehr persönlich« geführt, erinnern sich Axel und Thomas, die im Laufe der Gespräche aber auch mehr und mehr Verständnis für die Ängste der Israelis entwickelt haben.
Von den Spannungen merkt man nichts mehr, als in Grömitz Außenminister Frank-Walter Steinmeier an Bord kommt. Mit zwei Stunden Verspätung – sein Flug aus Moskau hatte sich verzögert. Dennoch bleibt Zeit für ein Foto mit dem Bürgermeister von Grömitz, dann kommt auch er an Bord der »Lizzy«, wie die Passagiere »ihr« Schiff inzwischen liebevoll nennen. Ein bisschen enttäuscht sind die Israelis, dass der Besuch des Außenministers wegen dessen Russlandvisite auf den Schabbat verschoben werden musste – und somit kein offizieller Vertreter Israels an dem Treffen teilnehmen kann, wie ursprünglich vorgesehen. In der holzvertäfelten Schiffsmesse diskutiert Steinmeier mit den jungen Leuten, auf deren kritische Fragen – Wie verhält sich Deutschland gegenüber dem Iran, wird es Israel im Falle eines Falles beistehen? – antwortet der SPD-Politiker diplomatisch ausweichend. Zum Gruppenfoto steckt ihm jemand einen Button mit der israelischen Flagge an. Bevor die Fotografen jedoch die Gelegenheit haben, auf den Auslöser zu drücken, macht ihm ein Mitarbeiter seines Stabes den Button rasch wieder ab. Kein außenpolitisches Statement!
Die gute Laune lassen sich die Teilnehmer aber nicht mehr verderben. Wehmut, dass die Schiffspassage vorüber ist, mischt sich mit Erleichterung, bald endlich wieder den Komfort eines Hotels zu genießen. Auf der Lizzy teilen sich jeweils drei Leute eine Kabine, Rückzugsmöglichkeiten gibt es nicht. Jetzt geht es weiter nach Berlin, wo noch drei Tage voller Politik, Kultur und Party auf dem Programm stehen. Nimrod und Kobi, zwei Geowissenschaftler aus Ne-tanya, freuen sich auf Berlin. Nimrod war zwar schon mehrmals in Deutschland, aber noch nie in der Hauptstadt. Kobi kennt Berlin bereits ganz gut. »Eigentlich ist es gar keine ›deutsche‹ Stadt. Berlin ist so international und weltoffen.« Die jüdische Infrastruktur interessiert ihn allerdings nicht so sehr. »In Israel bin ich kein praktizierender Jude, warum sollte mich das hier kümmern?«
Wiedersehen wollen sich die 26 Teilnehmer auf jeden Fall. Ein Gegenbesuch in Israel ist von den Veranstaltern bisher nicht geplant, man will versuchen, selbst etwas auf die Beine zu stellen. Bei aller Harmonie – was waren denn nun die Unterschiede zwischen den beiden Gruppen? Elif, Psychiaterin aus München, geboren in Istanbul – »Ich bin die Quotenmigrantin«, sagt sie augenzwinkernd –, hat festgestellt: »Die Deutschen sind politisch korrekter, die Israelis sind viel lustiger.« Und sie glaubt: »Wir interessieren uns viel mehr für die Israelis als sie für uns.« Katharina, die in Jerusalem für Aktion Sühnezeichen arbeitet, ist aufgefallen: »Unter den Deutschen sind noch sehr viele Singles oder zumindest Kinderlose. Die Israelis waren fast alle verheiratet und hatten Kinder.« Und Osnat fügt hinzu: »Wir haben die Deutschen gefragt, worauf sie an ihrem Land stolz sind, und uns sehr gewundert, dass sie nicht wussten, was sie sagen sollen. Sie hatten gar keinen Funken Patriotismus. Wir Israelis haben so viel, worauf wir stolz sind.«
Also veranstaltete man auf dem Schiff patriotische Lockerungsübungen und brachte einander die jeweilige Nationalhymne bei. »Kann man den Israelis zumuten, das Deutschlandlied zu singen?«, fragten sich die Deutschen. »Was würde meine Großmutter sagen?«, die Israelis. Umso stolzer waren sie dann, als die Deutschen die Hatikva schmetterten.