von Leo Brawand
Kaum ein Blatt der bundesdeutschen Gründerjahre hatte eine so heterogene Redaktion wie der 1947 gegründete Spiegel. Der Bogen reichte von den ehemaligen SD-Offizieren Horst Mahnke und Georg Wolff aus dem Reichssicherheitshauptamt bis zu dem »jüdischen Mischling ersten Grades« Ralph Giordano, der uns junge, kaum der Hitlerjugend entwachsenen Re-dakteure, durch seine persönlichen Berichte über NS-Verbrechen und Holocaust aufklärte. Dazu das liberale Weltkind Rudolf Augstein in der Mitten.
Mit Mahnke und Wolff habe ich zwei Jahrzehnte lang zusammengearbeitet. Ein öffentliches Thema wurde ihre NS-Vergangenheit erst spät; noch später, zugegeben, nämlich erst in meinem 2006 erschienenen Buch Der Spiegel – Ein Besatzungskind kam der eigene Versuch, unsere »blinden Fle-cken« in einem Extrakapitel aufzuarbeiten.
Über dem Lärmen um angeblich braune Netzwerke bei uns geriet ein anderes Faktum der Gründungszeit in Vergessenheit: die Tatsache, dass an der Wiege des Spiegels vorrangig jüdische Helfer Pate standen. Schon vor zwanzig Jahren nannte ich unser Nachrichtenmagazin deshalb in einem ersten Buch »ein deutsch-englisch-jüdisches Gemeinschaftswerk«.
Den englischen Hauptpart spielte der damals erst 21-jährige britische Presseoffizier Major John Chaloner, der in der Schule mit jüdischen Flüchtlingskindern aufgewachsen war. Chaloners hannoversche »Informationseinheit« zählte fünf jüdische Soldaten und Offiziere, die ihre Kraft dem Aufbau einer freien demokratischen Presse für die besiegten Deutschen widmeten. Zwei von diesen hochgebildeten, im deutschen Kulturkreis beheimateten Intellektuellen stellte Chaloner ab, um das für Deutschland völlig neuartige Medium Nachrichtenmagazin zu starten: Harry Bohrer und Henry Ormond.
Bohrer, der in Prag auf derselben deutsch-tschechischen Schule wie Franz Kafka gewesen war, hatte früh Hitlers Mein Kampf gelesen und wusste, was ihn nach dem Münchner Abkommen 1938 erwartete. Als im März 1939 deutsche Soldaten in Prag einmarschierten, befand er sich, wie sein Bruder Aaron, bereits auf dem Weg nach England. Obwohl kein Journalist – er hatte als kaufmännischer Angestellter in einer Glasfirma namens »Fischer-Söhne« gearbeitet – erwies Bohrer sich als ein Schreib-Naturtalent. Praktisch als erster Chefredakteur des Magazins bestimmte er mit Rudolf Augstein, mit dem er zuvor schon ein Jahr lang eine hannoversche Tageszeitung der Briten redigiert hatte, den Kurs des neuen Blattes, das der »Reeducation« der Deutschen dienen sollte. Werner Hühne, Chef vom Dienst der Anfangsjahre, schrieb mir noch 1987: »Bohrer ist der eigentliche Vater des Spiegel.«
Nach meinem Erleben in 60 Jahren war Bohrer der menschlichste aller Spiegel-Chefredakteure; Augstein selbst hat mehrfach öffentlich erklärt: »Harry Bohrer haben wir fast geliebt!« Uns damals jungen Redakteuren war er wie ein Vater. Meine »Schreibe« hat er immer wieder korrigiert und mich so zum Journalisten gemacht. Als ich zum Beispiel einmal einen Artikel über den Neubeginn der Kosmetikindustrie mit den Worten »Eigentlich ist die Frau doch immer auf dem Kriegspfad« einleitete und im Zusammenhang mit Schminke von »Kriegsbemalung« faselte, strich er den »Feuilletonkram« weg. Auch bei Außenreportagen half er mir, öffnete etwa die Türen zu einem Interview mit dem britischen Deutschlandminister Hynd.
Agierte Bohrer als unser Chefredakteur, so war der Stabsfeldwebel Henry Ormond unser erster Verlagsleiter. Ihm verdankte die Redaktion nicht nur das karge Mobiliar; er hielt uns durch die aus Armeebeständen stammende Extraportion Fleisch, die wir täglich in der Kantine auf den Teller bekamen, buchstäblich am Leben. Dabei hätte er allen Grund gehabt, uns, seinen ehemaligen Landsleuten, den Hunger zu gönnen. Ormond hieß eigentlich Hans Ludwig Oettinger und arbeitete als Richter in Mannheim, bis ihn die Nazis aus dem Justizdienst entließen. Danach hielt er sich als Justitiar einer Kohlenhandlung über Wasser, wurde 1938 in das KZ Dachau verschleppt und schaffte mit einem Arbeitsvisum als Hausdiener im August 1939, also in letzter Minute vor Ausbruch des Kriegs, seine Ausreise nach Großbritannien.
Beim Spiegel war Ormond aber nicht nur der »gute Onkel«. Während er der Re-daktion Papier, Büromaterial und Lebensmittel beschaffte, fand er auch Zeit, die Entnazifizierung voranzutreiben. Als Erster musste unser Auslandsredakteur Gerberding das Magazin verlassen; er hatte seinen Entnazifizierungs-Fragebogen gefälscht. Als Nächster sollte Hans Detlev Becker, bald Augsteins wichtigster Mann in der Redaktion, über die Klinge springen. Aber obwohl sich im britischen Document Center eine Notiz fand, derzufolge Becker NS-Parteianwärter gewesen sein sollte, konnte er am Ende bleiben.
Zu dem Kreis jüdischer Geburtshelfer von Europas heute bedeutendstem Nachrichtenmagazin gehörte auch Dr. H.G. Alexander, unser erster Korrespondent in London. Mit ihm, dem hochgewachsenen »Musterbriten«, habe ich gemeinsam mehrere der ersten Spiegel-Gespräche geführt, unter anderem mit den britischen Ministern Edward Heath und Reginald Maudling. Auch Harry Bohrer blieb nach seiner Rückkehr nach London seinem »Baby« Spiegel verbunden. Er übernahm in späteren Jahren verschiedene Aufgaben für den Verlag; Rudolf Augstein hat ihn in schwierigen Zeiten unterstützt.
Männer wie Harry Bohrer, Henry Ormond und H. G. Alexander hat der Spiegel-Kollege Wolfram Bickerich, einfühlsamer Lektor meines Buches, zutreffend so charakterisiert: »Zur Motivation der einstigen deutschen Emigranten zählte gewiss nicht nur die Absicht, Täter zu bestrafen und nationalsozialistisches Ge- dankengut für immer auszurotten, sondern auch Liebe zu dem Land, in dem sie geboren und aufgewachsen waren – und Liebe zu der Sprache, die sie einst gelernt hatten.«
Leo Brawand gehörte zur Gründungscrew des »Spiegel«, war langjähriger Wirtschafts-ressortleiter und während der Spiegel-Affäre 1962/63 Chefredakteur des Blatts. Er ist Verfasser des Buchs »Der Spiegel – ein Besatzungskind. Wie die Pressefreiheit nach Deutschland kam.« (Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2006, 230 S., 19,90 €).