von
Katharina Schmidt-Hirschfelder
Die Entscheidung ist gefallen. Vor einigen Wochen hat die Mehrheit der Gemeinderatsmitglieder der Großen Synagoge Stockholm dafür gestimmt, sich der konservativen Masorti-Bewegung anzuschließen.
»Masorti ist Weiterentwicklung«, sagt Alf Levy, der Leiter des Religionskomitees überzeugt. Die »Stagnation« in Stockholm habe bei vielen Gemeindemitgliedern zur Frustration geführt. »Langweilige Predigten«, halbherzige Reformen und eine »fehlende klare Linie« hätten in den letzten Jahren mehr Besucher verschreckt als neue angezogen.
Das klare Bekenntnis zu Masorti soll der Großen Synagoge in der Wahrendorffsgatan, einem Prachtbau aus dem 19. Jahrhundert im orientalischen Stil, nun auch inhaltlich neuen Glanz verleihen. »Das war eine gemeinsame Entscheidung im Gemeinderat. Wir haben das ganze Paket gekauft«, sagt Henrik Salamon, der Chef des Informationskomitees.
Die Große Synagoge, nicht die Stockholmer Einheitsgemeinde, nimmt mit sofortiger Wirkung alle Statute von Masorti Europa an. Masortis Regeln für Liturgie, Ha- lacha, Barmizwa, Konversion und Bildung sollen von jetzt an für die Große Synagoge gelten. Die Einheitsgemeinde macht damit, in gegenseitigem Respekt für ihre unterschiedlichen Strömungen, den Weg frei für einen Generationenwechsel. Den braucht die Große Synagoge dringend. Genauso wie einen neuen Rabbiner, der, so Salamon, »als Kapitän das Boot steuert«.
Eine längst überfällige Entscheidung, findet er. »De facto waren wir schon lange Masorti, nur das Etikett hat noch gefehlt«, sagt Salamon, der fast jeden Schabbat zum Gottesdienst kommt. Zur Stagnation habe nach seiner Ansicht vor allem das sogenannte Stockholmer Modell als eine Art »schwedischer Mittelweg« beigetragen. »Wir hatten immer konservative Rabbiner, außerdem egalitäre Gottesdienste und eine gemischte Sitzordnung. Für eine umfassende Strukturreform gab es da keinen Bedarf«, erklärt Salamon das jahrelange Zögern.
Da mag ein typisch schwedisches Phänomen Pate gestanden haben, das dort zum Problem wird, wo Entscheidungsfreude und Klarheit gefordert sind. Denn dem »schwedischen Mittelweg« liegt eine Mentalität zugrunde, die ein Wort am besten ausdrückt: lagom. Unübersetzbar in andere Sprachen, bedeutet es so viel wie »lauwarm«, »gerade richtig« oder »nicht besonders extrem«. Das Lagom-Prinzip beschreibt eine Grundhaltung, die in Schweden zum nationalen kulturellen Erbe zählt: Man möchte nicht streitbar sein, sich nicht festlegen und ja niemanden vor den Kopf stoßen.
Das Modell habe so lange gut funktioniert, wie starke Rabbinerpersönlichkeiten es getragen haben, meint Levy. »In einer Einheitsgemeinde fangen wir die Restposten auf. Wer nicht orthodox ist, orientiert sich an uns.« Für die meisten Gottesdienstbesucher sei ohnehin »eine gute Predigt oft wichtiger als die Gebete«, stellt Levy fest. Die Erwartungen an den neuen Rabbiner sind entsprechend hoch, seit Jahren ist die Stelle vakant.
Levy weiß, wovon er spricht. Mit mehr als 50 Rabbinerkandidaten hat er sich im vergangenen Jahr bei Bewerbungsgesprächen unterhalten. Die meisten kamen aus den USA. Dabei sei ihm vor allem eines klar geworden: »Wir haben in der Stellenanzeige die falschen Signale ausgesandt. Uns als ›nicht-orthodox‹ zu definieren, lässt zu viel Spielraum für Interpretationen offen.« Auch prinzipielle Kulturunterschiede schließt Levy nicht aus.
»Masorti hat sich in Amerika in eine andere Richtung entwickelt. Doch Masorti Europa sehe ich als europäisches Projekt. Damit können wir uns in Stockholm schon eher identifizieren.« Neben der nun erleichterten Suche nach einem neuen Rabbiner erwartet Levy vom Masorti-Beitritt vor allem Aufschwung in der Jugendarbeit. »Mit Masortis Netzwerk, seinem Wissen und seiner Kompetenz wollen wir wieder mehr junge Leute ins Boot holen.«
Die Zusammenarbeit reiche jedoch weit über Jugendprogramme hinaus, erklärt Rabbiner Chaim Weiner. Der Chef des Bet Din von Masorti Europa begrüßt die Entscheidung aus Stockholm und verspricht Unterstützung in allen wichtigen Fragen. Auf Einladung der Stockholmer Gemeinde hat er Mitte Mai die schwedische Hauptstadt besucht. »Die Jüdische Welt hat sich in den letzten Jahren sehr verändert«, sagt Weiner. Global gesehen sei es schwer für eine kleine Gemeinde, sich auf eigenen Füßen zu halten. Wenn ähnlich gesinnte Gemeinden zusammenarbeiten, könnten sie viel mehr erreichen.«
Weiner betont, dass die neue Masorti-Gemeinde eigentlich eine alte sei. »Die Große Synagoge wurde viele Jahre lang von Masorti-Rabbinern geleitet. Sie hat sich Masorti Europa angeschlossen, weil dort ihr Zuhause ist.«
Berlin, das mit seiner Einheitsgemeinde und dem Masorti-Verein »ähnlich strukturiert ist wie wir, war in all unseren Diskussionen immer ein starkes Argument«, sagt Henrik Salamon. Einen Masorti-Verein wie in Berlin wird es in Stockholm aber vorerst nicht geben. Offen geblieben ist bislang auch die Frage, ob die Gemeindemitglieder zusätzlich Masorti-Mitglieder werden müssen. »Ist ja auch alles noch ganz frisch«, meint Salamon und lacht. »Ein bisschen lagom darf’s schon noch sein.«