von Carl D. Goerdeler
Nie im Leben wird Nacib Nahoum aus der Sahara ziehen. Schließlich führt er in vierter Generation die »Casa Pedro«, einen Spezerei- und Gewürzhandel in der Rua Buenos Aires. Die enge Gasse ist eine der Schlagadern in der Altstadt von Rio de Janeiro. Man nennt sie »Sahara«, weil das im Portugiesischen »Saara« geschrieben wird. Dies wiederum ist eine Abkürzung für einen Kaufmannsverein, der sich »Freunde der Umgebung des Altstadtviertels« nennt.
Für die Cariocas aber, die Bewohner von Rio de Janeiro, heißt die Sahara schon immer Sahara – weil dies der Basar der Juden, Araber und Türken ist. »Wir zahlen hier kaum Grundsteuer; das Haus gehört uns, und die Familie führt das Geschäft – so wie bei den meisten meiner Kollegen«, sinniert Nacib und schlenkert mit dem Tesbih, der Gebetskette, in der Hand. »Allerdings machen sich immer mehr die chinesischen Billigläden breit, die ihren Ramsch direkt vom Schiff bekommen und hier verschleudern«, beklagt er sich.
Das interessiert nur die wenigsten der 70.000 Gaffer und Käufer, die sich täglich durch die Dutzenden von Gassen und 1.250 Ramschläden des Viertels drängen auf der Suche nach Schnäppchen. Helena zum Beispiel, die junge Mulattin und Hausangestellte. Sie zaudert noch, was sie zum Karneval anziehen soll.
War die Saisonware gestern noch der Christbaumschmuck, so gibt es jetzt Karnevalskostüme von der Stange: Seeräuber, Batmen, Zigeunerinnen, Vampire, Scheichs und Haremsdamen, Sensenmänner und Hexen, das ganze Gesindel. Dazu Gorilla-Masken, Totenschädel, Katzenköpfe, künstliche Busen, Plastik-Pos und die Konterfeis von Barack Obama oder Osama bin Laden. Erst in der Rua Buenos Aires 287 findet Helena ihr Paradies: »Babadão da folia« nennt sich der Laden – in Köln hieße es wohl: »Der Fassnachts-Jeck«, rund ums Jahr geöffnet.
Helena betritt ein Labyrinth aus Glamour und Glitter. An den Stoffbahnen und Bijouterien vorbei durch die Federboa-Abteilung, die Perücken missachtend, nun zu den Pfauenfedern, Lamettaslips, zu Plüsch und Pleureusen, Ketten, Gemmen und Spangen, winzigen Accessoires, den Kaurimuscheln fürs Glück, den Spiegeln und Sprays, und schließlich den Hasenpfoten. Auch die braucht der Mensch neben dem Gummischutz in diesen Tagen.
Draußen auf der Gasse werden »Superdamenslips« verhökert. Der Marktschreier nimmt die dünnen Dinger in die Hand und dehnt sie wie eine Steinschleuder. »Heiße Ware – aber mit cooler Zone. Wie die Aircondition zu Hause!«, prahlt er. Als ob er die zu Hause hätte. Aircondition wäre jetzt wunderbar, wo Helena immer noch drinnen im Pleureusen-Palast nach – was eigentlich? – sucht.
»Die Sahara ist eine Oase des Friedens«, meint Said Ahmady, der vor 19 Jahren aus dem Iran geflohen ist, just zu der Zeit, als seine Heimat im Krieg mit dem Nachbarn Irak stand. Angekommen in Brasilien, eröffnete er mit einem jüdischen Freund in Rio eine Textildruckerei. Said ist ein Greenhorn in dieser Sahara. Das älteste Geschäft des Viertels, das bis heute ausgehalten hat, ist die »Charuteria Syria«, eine Räucherhöhle, die seit 1886 Wasserpfeifenkohle, handgedrehte Zigarren und Rohtabak anbietet, der in dicken Zöpfen geflochten wie ein Elektrokabel von der Trommel kommt.
Bereits im 17. Jahrhundert hatten sich hier die Händler der Hafenstadt angesiedelt, richteten Magazine und Kontore, Werkstätten und Kneipen ein. Jüdische und libanesische Kaufleute zog es in die Gegend, die Rua de Andradas, die Rua Buenos Aires und die Rua da Alfândega. Das waren im 19. Jahrhundert erste Adressen – bis ehrgeizige Bürgermeister breite Schneisen durch die Stadt schlugen, so wie es Baron Haussmann in Paris machte. Beinahe wäre die Sahara auch unter die Bulldozer gekommen. Doch dann ging der Stadt das Geld aus, und die Kontore und Magazine blieben im Schatten der Bürohochhäuser – so gut sie konnten – einfach stehen.
Diese Sahara, sie war einmal ein Schandfleck, ein Sumpf. In dieser Niederung aus Hütten und Herbergen für die abgerissenen Einwanderer aus Russland, Bessarabien, Polen, Ungarn, Rumänien und der Levante. Das ganze Volk, das sich mit den herrenlosen Sklaven die Hinterhöfe und Kloaken teilte. In diesem Areal, aus dem das Gelbfieber kam und der erste Samba erklang, kochten die Gewürze, die erst später zum Parfüm von Rio de Janeiro wurden.
Polka und Samba, Synagoge und Bordell, Atlantik und Absinth. Westlich wie östlich des Exerzierplatzes, der Campo de Santana, die dann später »Platz der Republik« getauft wurde, erstreckten sich die dunklen Viertel, in denen es neben den Hainen der afrikanischen Götter, den orthodoxen Kapellen und katholischen Kirchen ein Dutzend Synagogen gegeben hat. Auf den Gassen der Sahara und auf der Praca Onze sprach man Jiddisch, Türkisch und Arabisch. Orthodoxe Juden speisten im Gasthaus Schneider Gefilte Fisch und lasen »Dos Idische Vochenblat«.
Die Rua Júlio do Carmo hatte den Spitznamen »idische Avenide«. Jüdische Straßenhändler aus Osteuropa genossen bei der feinen Gesellschaft einen fast ebenso zweifelhaften Ruf wie die »Polacas«, zur Prostitution gezwungene – auch jüdische – Mädchen. Es mag wild hergegangen sein in diesem Bauch von Rio de Janeiro – doch jeder konnte dort nach seiner Fasson selig werden. Man schlug sich um Gold, aber nicht um Gott oder der Hautfarbe wegen.
Handel und Höker, Lärm und Leben – alle vier Jahre fallen die Lokalpolitiker ein und feilschen um Groschen und Stimmen. Brasiliens Mittelklasse fährt in die Shoppingcenter weit draußen. Aber wer die Münze dreimal umdreht, kommt immer wieder in die Sahara.