von Caroline Fetscher
Neulich, auf dem Spaziergang mit der Tochter muslimischer Nachbarn in Berlin, suchten wir einen bestimmten Spielplatz, die Straße war menschenleer. Nur im Café einer Kirche herrschte etwas Betrieb, dort konnte man fragen. Auf der Schwelle blieb die Zehnjährige zitternd stehen. »Da darf ich nicht rein!«, flüsterte das Kind. Ach wo, das sei nicht verboten, außerdem gebe es überall denselben Gott, versuchten wir zu beruhigen. Wir erkundigten uns. Das dauerte keine drei Minuten. Danach schien das Mädchen sich zu wundern, dass sie den Kurzaufenthalt in einem Tempel von Ungläubigen unbeschadet überstanden hatte.
Ihre Furcht kommt nicht von ungefähr. Seit einem Jahr muss sie jede Woche stundenlang in einer der Hinterhof-Koranschulen verbringen. Sie ist ängstlicher geworden. Ein Tuch muss das Kind nicht tragen. Aber in ihrem Kopf werden unsichtbare Grenzen gezogen, Zäune und Mauern aufgestellt. Was der Imam vorgibt, gewinnt mehr und mehr an Autorität bei ihrer Verwandtschaft, die früher nur sporadisch die Moschee besucht hat.
Abschottung, Scheu, Berührungsängste, Abwehr und Ressentiments – das sind die Resultate. Und es geht nicht um eine »Parallelgesellschaft« irgendwo am Rande, sondern um einen großen Teil der Bevölkerung in den urbanen, europäischen Ballungsräumen. Vierzig Prozent der Berliner Erstklässler haben inzwischen einen mig-rantischen Hintergrund, 50 Prozent sind es in Hamburg. Der Islam und die aus seinen Reihen rekrutierten Anhänger des Islamismus gehören längst zu Europas Realität. Und sie werden immer mehr. Die Anzahl der Muslime ist heute weltweit höher als die der Katholiken, wie der Leiter des zentralen kirchlichen Statistikamtes vor Kurzem aus dem Vatikan meldete. 1,1 Milliarden Katholiken stehen nun 1,3 Milliarden Muslimen gegenüber. Katholiken machen derzeit 17,4 Prozent der Weltbevöl- kerung aus, Muslime 19,2. Global betrachtet, sind 33 Prozent Christen, ein knappes halbes Prozent sind Juden.
Überall, wo der Islam stark ist, begegnet man auch fundamentalistischen, islamistischen Phänomenen. Sie richten sich im Kern gegen den demokratischen Rechtsstaat, die Säkularität, den Westen schlechthin, und sind damit ganz real eine Bedrohung. Nach dem Ende des Kalten Krieges avancierte der Islamismus bei Hunderttausenden, auch in Europa, zur global vernetzten Ersatzideologie. Er nimmt Restbestände antikapitalistischer Strömungen ebenso in sich auf, wie Splitter des rechten oder linken Antiamerikanismus und Antisemitismus. Ideologisierter Islam oder auch nur verstärkt praktizierter Islam – sie gehören zur Gegenwart.
Angesichts dieser Erscheinung helfen weder statistisches Weg- und Schönrechnen noch eingeschüchtertes Appeasement oder Propaganda im Stil des niederländischen Anti-Islam-Videos Fitna. Es ist auch nicht damit getan, dass sich als Gegenreaktion eine stärkere Hinwendung nichtislamischer Gruppen zu ihren eigenen konfessionellen Hintergründen entwickelt. Wenn heute mehr Juden und Christen als etwa in den siebziger Jahren ihre Kinder religiös erziehen, folgen sie dabei oft denselben Strategien wie sich abschottende Muslime: Man wendet sich der »eigenen Sache« zu. Dabei gälte es, Energie aus dem großen Fundus der Gemeinsamkeiten zu beziehen, der enormes Potenzial haben könnte. Die allermeisten Juden und Christen, auch die nicht praktizierenden, sogar die Agnostiker unter ihnen, teilen heute Haltungen, die für Menschenrechte, Frauenrechte, das gewaltfreie Erziehen von Kindern, für Meinungsfreiheit und Toleranz entscheidend sind. Es sind genau die Positionen, die von den radikalen Strömungen des Islam angegriffen und aufgeweicht werden sollen. Es sind genau die, die alle gemeinsam erhalten und ausbauen müssen, denen die Islamisierung mit Recht Sorge bereitet.
Vor Kurzem machte mir ein Korrespondent des arabischen Senders Al Dschasira den Vorwurf: »Ihr im Westen seid doch nur deshalb für die Menschenrechte, weil ihr euch selbst wohler fühlt, wenn die Mädchen in Afghanistan in die Schule gehen!« Stimmt, lautete die Antwort. Genau so ist es. Der Vorwurf war ein echtes Kompliment. Wenn uns Nächstenliebe und Gerechtigkeit etwas bedeuten, finden wir es tatsächlich unerträglich, dass Mädchen am Lernen gehindert werden. Und wo Kinder lernen, da wollen wir, dass sie nicht durch Ideologie blockiert werden, sondern Zuwendung erleben und ihren Verstand gebrauchen dürfen. Auch dafür, dass die Millionen muslimischer Kinder Europas in diesem Sinn aufwachsen, können Juden und Christen gemeinsam arbeiten. Ihnen und uns selbst zuliebe.
Die Autorin ist Journalistin und Reporterin des Berliner Tagesspiegels.