von Sabine Brandes
Es ist die Zeit, in der die Flaggen wieder wehen. Der blaue Davidstern auf weißem Grund. Jom Haatzmaut, der Unabhängigkeitstag des Staates Israel, an dem die Häuser und Autos im ganzen Land mit Fahnen geschmückt sind, ist noch in weiter Ferne. Alon Niew hat seine Fahne dennoch schon herausgeholt und an seinem Kleinlaster angebracht. Stolz fährt der Bauunternehmer damit durch die Stadt. »Weil wir uns nicht unterkriegen lassen«, ruft er aus dem Autofenster, die Hand zur Faust geballt.
Drei Wochen sind seit dem Beginn der israelischen Militäroffensive in Gasa ins Land gegangen. Ein Ende ist noch nicht in Sicht. Ministerpräsident Ehud Olmert stimmte sein Volk am Sonntag auf eine Fortsetzung des Kampfes ein: »Wir haben riesige Anstrengungen im Gasastreifen unternommen, damit die Situation im Süden eine andere wird. Wir wurden zu dieser Entscheidung gezwungen, um unsere Bürger zu schützen, deren Leben unerträglich geworden war.« Der Noch-Regierungschef betonte, dass die Armee ihrem Ziel nahe sei und mit ihrer Operation gegen die Hamas fortfahren werde.
Auch wenn die Mehrheit der Israelis nicht mehr viel von dem unter Korruptionsverdacht stehenden Ministerpräsidenten hält, diese Worte würden sicherlich die meisten unterschreiben. »Man mag dem Krieg in Gasa gegenüberstehen wie man will«, schrieb ein amerikanischer Blogger während seines Israelbesuches, »den außergewöhnlichen Zusammenhalt dieses Volkes in Zeiten einer Krise aber kann man nicht leugnen.« In der Tat: Die Israelis stehen vereint. Immer noch oder jetzt erst recht. »Wir werden siegen«, schreiben sich Freunde neuerdings als P.S. unter ihre E-Mails. Zu jeder halben und vollen Stunde wünschen die Radiosender »den Bürgern im Süden unseres Landes Stärke, Sicherheit und Glück«.
Kurzzeitig hatte man eine zweite Front im Norden befürchtet. Vergangene Woche waren vier Raketen aus dem Südlibanon auf Naharija abgeschossen worden, zwei Menschen wurden verletzt. Die libanesische Hisbollah dementierte umgehend, etwas damit zu tun zu haben. Zu sehr liegt ihr daran, bei den anstehenden Wahlen im Libanon zu einer politisch angesehenen Macht zu werden. Wahrscheinlich wurden die Katjuschas von einer palästinensischen Splittergruppe aus einem Flüchtlingslager abgefeuert. Am Mittwochmorgen gab es vier weitere Einschläge.
»Chasak« heißt stark. Drei hebräische Buchstaben, die dieser Tage allgegenwärtig sind. »Gemeinsam stark«, propagiert der Likud auf Plakaten in Nationalfarben im ganzen Land. Von Kiriat Schmona bis Jerusalem, von Tel Aviv bis nach Eilat prangen sie an Litfaßsäulen, Straßenkreuzungen und Häuserwänden. »Israel ist stark«, »Unser Land hat Kraft«, die Slogans ähneln sich, die Aussage ist die gleiche. Der Kioskbesitzer an der Ecke hat sein eigenes Poster gemalt: »Die Hamas kriegen wir klein, denn Israel ist mächtig«. Es scheint, als genüge ein kleines Attribut, um dem Wunsch der meisten Israelis Ausdruck zu verleihen.
»Stimmt«, findet Niew, »in diesem Krieg ist es das Wichtigste, dass wir als Volk zusammenhalten. Das gibt uns die Kraft, die wir zum Siegen benötigen. Und weiß Gott, wir brauchen den Sieg.« Schließlich hätte Israel diesen Konflikt ja nicht begonnen, sondern lediglich auf den nicht enden wollenden Beschuss seines Südteils reagiert. Nach Zweifeln steht dem zweifachen Familienvater dieser Tage wenig der Sinn. »Das bringt uns nicht weiter. Unsere Soldaten brauchen unsere rückhaltlose Unterstützung und keine Leute, die sie mit ihren linken Parolen demoralisieren.«
Für Gidon Levy ist Kritik am Krieg keine Untergrabung der Moral, sondern das Gegenteil. Es gäbe keine bessere Zeit dafür als jetzt, macht der Journalist in der Wochenendausgabe der Tageszeitung Haaretz klar. »Wir dürfen nicht nur fragen, was an diesem oder jenem militärischen Schritt richtig ist. Wir müssen auch fragen, ob es gut für die Juden ist, diesen Krieg zu führen, ob es gut ist für Israel, und ob die andere Seite es verdient. Ja, es ist erlaubt, nach der anderen Seite zu fragen. Auch im Krieg – wahrscheinlich vor allem im Krieg.« Die Kinder im Süden, schreibt Levy weiter, seien nicht nur die Kinder von Sderot, sondern auch die Kinder von Beit Hanun. Kein Journalist bekommt so viel Post wie Levy – vor allem Drohungen.
Der Reporter ist nicht die einzige missbilligende Stimme im Land, doch ist es derzeit die Ausnahme, dass sich die Menschen unumwunden kritisch zur Militäraktion äußern. Wer will schon als Landesverräter gelten? Im geringsten Fall werden Kriegsgegner argwöhnisch beäugt, öfter noch als unpatriotisch und antiisraelisch abgestempelt, viele mit Hasstiraden bedacht. Wie die Protestierer, die vor einigen Tagen in Tel Aviv auf die Straße gingen. »Schluss mit den Bomben, Schluss mit dem Töten«, skandierten sie und ernteten dafür von einigen Hundert Befürwortern der Offensive wüste Beschimpfungen. Eigentlich hatte auch die linksgerichtete Meretz-Partei zu der Demonstration aufrufen wollen. Kurz vor Beginn aber hatte sie ihre Teilnahme abgesagt und stattdessen ein Papier veröffentlicht, in dem sie die Operation in Gasa befürwortet. Am vergangenen Samstagabend organisierte die Friedensinitiative Schalom Achschav erstmals eine Veranstaltung, die zum Waffenstillstand aufrief.
Michal ist weder für noch gegen den Krieg. »Ich bin unpolitisch«, sagt sie. Michal ist Mutter. Ihren vollen Namen will sie nicht nennen, über ihre Angst aber redet sie. Sie hat zwei Söhne, beide haben in der Armee gedient. Einer war im Sommer 2006 im Libanon. Leicht an der Hand verletzt, kehrte er schnell heim. »Dafür danke ich jeden Tag aufs Neue dem lieben Gott«, sagt die 49-Jährige, die sich immer noch gut an ihre Angst von damals erinnert. »Ich weiß noch genau, wie er anrief und sagte, ›Mama, ich muss jetzt rein.’ Da bin ich völlig panisch geworden.« Vier Tage und Nächte aß Michal nicht, schlief nicht. In ständiger Sorge um ihren Sohn. Nach Gasa wird er nicht müssen, er reist gerade mit dem Rucksack durch die Welt. »Ich bin unendlich dankbar dafür«, gibt Michal zu, »ich weiß nicht, ob ich es noch einmal ausgehalten hätte«. Sie fügt hinzu: »In Gedanken bin ich mit all unseren Söhnen im Krieg und bei ihren Müttern.«
Seit der Bodenoffensive strömen die jungen Männer der Armee in ihren Tarnuniformen in den Gasastreifen und kämpfen sich durch Häuser, Wohnblocks, Gassen, versuchen Waffenlager und Tunnel der Terrororganisation zu zerstören. Allen voran stets die Golani-Brigade, die viele gläubige Juden in ihren Reihen hat. Sie alle haben ihr Gebetbuch in der Tasche und die Angst im Nacken, sie könnten von Scharfschützen der Hamas ins Visier genommen werden. Häuserkampf ist die schrecklichste Art der Kriegsführung, meinen viele. »Besonders schlimm ist es in der Nacht, wenn du bei jedem Geräusch zusammenzuckst«, sagt einer, während er »Louf«, das Dosenfleisch der Armee, auf einem Gasbrenner wärmt. Sein Gesicht ist mit Tarnfarbe bedeckt. Er liegt auf einem Schlafsack in einem verlassenen palästinensischen Haus. Mit seinen Kameraden wartet er darauf, dass die bitterkalte Nacht endlich vorüber ist. Gerade ist er 19 Jahre alt geworden. Genau so alt war Matan Ovadati. Matan kann nicht mehr nach Hause, obwohl er sein ganzes Leben noch vor sich gehabt hätte. Matan ist im Kampf gefallen. Er wurde mit zwei seiner Kameraden von der Hamas in einen Hinterhalt gelockt und kaltblütig ermordet. Matan Ovadati ist der zehnte Soldat der Gasa-Offensive, den seine Lieben daheim zu Grabe tragen mussten.
Einer, der in Gasa ist und von dem man nicht weiß, ob er noch lebt, ist Gilad Schalit. Schon seit Monaten gibt es kein Lebenszeichen mehr von dem jungen Soldaten, der im Juni 2006 von der Hamas verschleppt worden ist. Fast schon trotzig wirken die Aufkleber an den Heckscheiben der Autos, die sagen: »Gilad lebt noch immer!« An der Stadtgrenze zwischen Herzlija und Tel Aviv hängt sein überdimensionales Porträt an einem riesigen Wasserreservoir. »Mit jedem Tag, der vergeht, verschwindet Gilad Schalit ein bisschen mehr«, steht daneben. Nur noch ein Hauch ist von seinem Konterfei zu sehen. Die Sonne hat es ausgeblichen. Die Hamas hat verkündet, dass sie nicht mehr für ihn verantwortlich ist. Was das genau heißt, weiß in Israel niemand.
Einer, der politisch schon totgesagt war, ist Ehud Barak. Der Krieg jedoch katapultierte den Verteidigungsminister und Vorsitzenden der Arbeitspartei zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Plötzlich ist Barak überall: Mit Sonnenbrille verabschiedet er Soldaten an der Grenze, sitzt in seiner Lederjacke in Talkshows und bespricht als Militärexperte die Strategie mit der Armeeführung. Seine Beliebtheit sprang fast über Nacht von 34 auf 53 Prozent. Auch Außenministerin Zipi Livni hilft die Offensive politisch. Barak und Livni setzen auf ein baldiges Ende der Militäroperation. Zum einen, um nicht noch mehr Soldatenleben zu riskieren, zum anderen, um diplomatisch nicht weiter ins Abseits zu rutschen.
Währenddessen geht der Beschuss auf die geschundenen Städte im Süden Israels weiter. Zwar verkündete die Armee, dass die Zahl der abgefeuerten Raketen seit Beginn des Krieges halbiert werden konnte, doch auch vor 20 oder 30 Geschossen müssen die Menschen fliehen. Noch immer gibt es keinen öffentlichen Gottesdienst, keine Versammlungen, keine Konzerte. Schlicht nichts, was unter normalen Umständen aus dem Leben gar nicht wegzudenken ist. In den Programmbeilagen der Tageszeitungen steht unter der Rubrik Kino: »Während der besonderen Lage in Sderot, Aschkelon, Aschdod, Netiwot und Beer Schewa sind die Kinos bis auf Weiteres geschlossen.«
Um dennoch ein wenig Alltag zuzulassen, öffneten am Montag zum ersten Mal nach über zwei Wochen einige Schulen wieder ihre Türen. Viele Kinder kamen, erleichtert, der Enge des Schutzraumes wenigstens für einige Stunden entfliehen zu können. Doch von Normalität keine Spur: Just, als die Uhr 13 schlug und die Schüler von Sderot nach Hause gehen sollten, tönten wieder die Sirenen, ließen 15 Sekunden Zeit, Schutz zu suchen. Mittlerweile weiß jeder, wo der nächste Bunker liegt. Der Alarm rettet Leben – und erinnert alle daran, wo sie zu Hause sind.