Philadelphia ist die amerikanische Urstadt. Hier verbrüderten sich die amerikanischen Kolonialschmuggler, die keine Steuern mehr an den englischen König zahlen wollten; die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung wurden in Philadelphia geschrieben und verabschiedet. Heute kann sich der Tourist die »Unabhängigkeitshalle« anschauen, in der 1776 die Geschichte der neuen Nation begann; gleich daneben hängt unter Glas die »Freiheitsglocke« mit dem berühmten zickzackförmigen Sprung. Nun wird in unmittelbarer Nähe dieser amerikanischen National- heiligtümer ein »Museum für amerikanisch-jüdische Geschichte« gebaut, das im Herbst 2010 seine Tore öffnen soll. Ein luftiges Monument aus Glas und Stahl, das zeigt, wie selbstverständlich die Juden in Amerika dazugehören (niemand käme auch nur im Traum darauf, sie »jüdische Mitbürger« zu nennen), wie wichtig sie für das Selbstverständnis der Nation sind.
Im gerade eben vergangenen Sommer durfte die Öffentlichkeit per Internet über 18 Persönlichkeiten abstimmen, deren Biografien als Teil der Kernausstellung gezeigt werden sollen. 209.000 Stimmen wurden abgegeben, die Wähler kamen aus 56 Ländern rund um den Erdball. Allerdings bestimmten die Internetuser nicht darüber, wer in der Ausstellung berücksichtigt werden soll: »Als Beliebtheitswettbewerb war das nie gedacht«, sagt Michael Rosenzweig, der gleichzeitig Museumsdirektor und Aufsichtsratsvorsitzender jener Gesellschaft ist, der das Museum gehört. Die 18 jüdischen Amerikaner, die es in die Endauswahl geschafft haben, verkörpern also »einen Konsens zwischen der Auswahl der Öffentlichkeit sowie den Historikern und Kuratoren, die für das Museum arbeiten«.
Mit vielen Namen vertreten sind Juden, die für die amerikanische Unterhaltungsindustrie arbeiten: Irving Berlin ist selbstverständlich mit von der Partie, aber auch Barbra Streisand, Steven Spielberg und Leonard Bernstein kommen in die Ausstellung. Damit niemand behaupten kann, Juden seien unsportlich, wird der Baseballstar Sandy Koufax gewürdigt. Der schnauz- bärtige Struwwelkopf des genialen Albert Einstein, der vor den Deutschen nach Amerika floh, gehört zu den Ikonen des 20. Jahrhunderts. Jonas Salk aber war in seiner Disziplin ebenso bedeutend – der Virenforscher bescherte uns immerhin den Impfstoff gegen Kinderlähmung. Unter den Schriftstellern wird Isaac Bashevis Singer hervorgehoben, unter den Kosmetikherstellern Estée Lauder, unter den Gewerkschaftern Rose Schneiderman. Für die amerikanische Geschichte sehr bedeutend war Louis Brandeis, der erste Jude, der ans Oberste Verfassungsgericht berufen wurde. Immerhin ein israelischer Premier wird in der Schau gefeiert: Golda Meir, die, in Kiew geboren, als Achtjährige nach Milwaukee emigrierte. Bleiben noch die Rabbiner, unter ihnen etwa Mordecai Kaplan, der Begründer des neumodischen Rekonstruktionismus, und Menachem Mendel Schneerson, der altmodische Lubawitscher Rebbe.
Damit niemand behaupten kann, Frauen kämen in dieser Schau zu kurz, geht sie auch auf die Zionistin Henrietta Szold und auf Emma Lazarus ein. Lazarus, die Heinrich Heine verehrte, verdanken wir die schönen Verse, die zu Füßen der Freiheitsstatue eingraviert stehen: »Give me your tired, your poor, / Your huddled masses yearning to breathe free.«
Die 18 ist eine schöne Zahl, sie steht im hebräischen Alphabet für »chai«, Leben. Trotzdem hat die Auswahl naturgemäß sofort Kritiker auf den Plan gerufen: Warum ausgerechnet dieser, warum nicht jener? Wo bleiben die jüdischen Köche (Joan Nathan), Spielzeughersteller (Ruth Handler), Erfinder (Lazlo Biro) und Designer (Rudi Gernreich)? Diese Frage stellte ein bekannter Kolumnist. Mit demselben Recht könnte man allerdings auch fragen: Wo, bitte schön, sind die jüdischen Schwerverbrecher abgeblieben? Eine Wachsfigur des jüdischen Mafioso Meyer Lansky müsste doch mindestens drin sein.
Doch alle Kritiker der Dauerausstellung mögen sich in Geduld fassen. Jene 18 jüdischen Amerikaner, die jetzt gewürdigt werden, stellen gewissermaßen nur die Avantgarde: Das »Museum für amerikanisch-jüdische Geschichte« wird irgendwann eine zweite Wahl veranstalten, damit auch andere Persönlichkeiten eine Chance bekommen. Ob allerdings jemals Herschel Shmoikel Pinchas Yerucham Krustofski unter den Auserwählten sein wird, der mit seinem Künstlernamen »Krusty the Clown« in der bunten Familienzeichentrickserie The Simpsons auftritt – das kann niemand versprechen. Hannes Stein
USA