von Jessica Jacoby
Es gab Kiddusch am Freitag- und Hawdala am Samstagabend, und dennoch war die Gesamtatmosphäre bei der Tagung »Sag bloß nicht, dass Du jüdisch bist«, die am vergangenen Wochenende in Berlin stattfand, überwiegend christlich geprägt. Man konferierte über die nationalsozialistische Verfolgung sogenannter jüdischer Mischlinge ersten und zweiten Grades. Dazu hatte der Verein »Der halbe Stern e.V.« mit seiner Vorsitzenden, der Pfarrerin Brigitte Gensch, eingeladen.
Inhaltlich offenbarte sich die Dominanz christlichen Interesses besonders deutlich beim Zeitzeugen-Podium am Freitagnachmittag, bei dem alle Teilnehmer nicht müde wurden zu betonen, wie wichtig schon ihren Eltern und ihnen selbst ihre Mitgliedschaft in der evangelischen Kirche gewesen sei. Immerhin gab es Wortmeldungen aus dem Publikum wie die von dem Historiker Gerhard Baader, Jahrgang 1928, Sohn einer jüdischen Mutter und eines nichtjüdischen Vaters. Baader wies darauf hin, wie wichtig es sei, bei den Judentaufen zu differenzieren: Im 19. Jahrhundert wären sie ein reines Oberschichtphänomen gewesen, das der Karriere dienen sollte, während Taufen in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts geschahen, weil man sie fälschlich als Lebensversicherung gegen den NS-Terror verstand. Der Historiker Johannes Heil von der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg spannte einen großen Bogen vom frühen Mittelalter bis zur Neuzeit. Er zeichnete Biografien jüdischer Täuflinge nach, die als Kronzeugen gegen das Judentum eingesetzt wurden. Die meisten von ihnen gerieten in große Abhängigkeit von ihren kirchlichen Auftraggebern, die solche Loyalitäts- beweise verlangten, aber ihnen weiterhin misstrauten, und endeten in Armut und Isolation. Der Wille, zwangsgetaufte Juden zu überwachen, geisterte schon seit dem Mittelalter durch die Köpfe kirchlicher und weltlicher Herrscher. Doch es war erst der Antisemit Eugen Dühring (1833-1921), der die getauften Juden für so gefährlich und unkontrollierbar hielt, dass er ihre physische Ausrottung forderte.
Der Höhepunkt der Tagung war der Vortrag des Psychoanalytikers Kurt Grünberg vom Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/ Main. Er sprach »Zur intergenerationalen Tradierung extremen Traumas« und zeigte anhand einer Familie, wie Erinnerung durch das Erreichen eines höheren Lebensalters ausgelöst werden kann. Eine 23-jährige Studentin erzählt ihrem Stiefvater, wie muslimischer Gebetsgesang sie an ihre frühkindliche Erfahrung in einem iranischen Gefängnis erinnert, in dem ihre Mutter inhaftiert war. Der Stiefvater denkt daran zurück, wie er 23 Jahre alt war und sein Vater ihm erzählte, dass er in diesem Alter aus dem KZ befreit wurde und feststellen musste, dass keines seiner Geschwister die Schoa überlebt hatte. Nicht nur die gelungene Verbindung aus Theorie und Praxis szenischer Erinnerungen haben überzeugt, sondern auch die berührende Vor- tragsweise.
Enttäuschend fiel dagegen die Veranstaltung des Psychotherapeuten Jürgen Müller-Hohagen aus. Sein Vortrag: »,Ewiger Halbjude?‹ – zur Fortdauer von Nazi-Konstruk- tionen in der gesellschaftlichen Mitte« kam nicht über Anekdotisches und eigene Befindlichkeiten im Umgang mit Juden hinaus.
Insgesamt hinterlässt die Veranstaltung den Eindruck, dass die evangelische Kirche hier eine weitere Aufarbeitung ihrer Geschichte betreibt, bei der ihre »nichtarischen« Mitglieder dankbar eine Rolle spielen. Regisseure sind sie nicht. Die evangelische Kirche ist eine mächtige Institution der deutschen Mehrheitsgesellschaft, und diese kann immer noch leichter mit Personen »jüdischer Herkunft«, die unbedingt »dazugehören« wollen, umgehen als mit Juden, die kein Problem darin sehen, einer Minderheit anzugehören. Ganz gleich, ob sie ein oder zwei jüdische Elternteile haben oder ob sie nun Gemeindemitglieder sind oder nicht. Aber wussten wir das nicht auch schon vor dieser Veranstaltung?