Rabbiner

Halacha trifft Macht

von Hannes Stein

Wenigstens einen der jüdischen Geistlichen, die auf der aktuellen Liste der 50 einflussreichsten Rabbiner Amerikas im »Newsweek«-Magazin stehen, habe ich schon mal mit eigenen Augen gesehen: die Nummer 36. Hierbei handelt es sich um Rabbi Arthur Schneier von der East Park Synagogue, einen freundlichen älteren Herrn mit weißem Haarkranz. 1938 flüchtete er als Kind von Wien nach Budapest, wo er den Holocaust überlebte, nach dem Krieg emigrierte er in die USA. In der East Park Synagogue diskutierte damals – es war gerade Präsidentschaftswahlkampf – ein Berater von John McCain mit einem Berater von Barack Obama über die Bedrohung, die von der iranischen Atombombe ausgeht. Der Berater von Obama war rhetorisch eindeutig besser. Vor dem Streitgespräch hielt Arthur Schneier eine Rede, an die ich mich – ehrlich gesagt – nicht mehr erinnere. Ich weiß aber noch: Sie war wirklich witzig. Wenn es nach mir ginge, könnte Rabbi Schneier also ruhig auf Platz eins jener »Newsweek«-Liste stehen. Immerhin hat der Mann mal den Papst in seiner Synagoge beherbergt!
Auf dem ersten Platz aber steht David Saperstein (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Multimilliardär), jener Reformrabbiner, der sich rühmen kann, ein Freund des amtierenden Präsidenten zu sein. Obama schlägt Papst – das leuchtet unmittelbar ein. Als Obama vergangenen Sommer von der Demokratischen Partei nominiert wurde, gab Rabbi Saperstein seinen Segen dazu. Außerdem ist er Mitglied verschiedener progressiver politischer Clubs in Amerika. Mich freut jedoch aus ganz lokalpatriotischen Gründen, dass Saperstein auf Platz eins vorgerückt ist: Dieser Rabbi, der in Washington beheimatet ist, stammt endlich mal nicht von der Westküste.
In den »Newsweek«-Listen der vergangenen Jahre musste ein bedenkliches Übergewicht von Westküstenrabbinern konstatiert werden. Das konnte nicht ewig so weitergehen! Bei aller Liebe zu Hollywood: New York ist das Zentrum der jüdischen Welt in Amerika, nicht dieses popelige Kalifornien. Doch »Newsweek« behauptete jahrein, jahraus, dass Marvin Hier aus Los Angeles der Rabbiner aller Rabbiner sei. Nun ist er auf den zweiten Platz zurückgerutscht – endlich!
Allerdings muss ich zugeben, dass mir Marvin Hier, der Gründer des Simon-Wiesenthal-Zentrums in L.A., im Grunde sehr sympathisch ist – nicht zuletzt deshalb, weil er seine Kleineleuteherkunft (sein Vater war ein Lampenputzer aus Polen) nie versteckt hat. Nach dem Amoklauf der pakistanischen Massenmörder in Mumbai hielt er eine exzellente Ansprache. Aber Rangordnung bleibt nun mal Rangordnung, tut mir leid. Indessen: Der erste New Yorker, der auf der »Newsweek«-Liste auftaucht (die Nummer vier), ist ein No-Name-Star: ein gewisser Yehuda Krinsky. Wer weiß, um wen es sich handelt, hebe die Hand! Auflösung: Rabbi Krinsky ist Mr. Lubawitsch – sozusagen der Stellvertreter des Rebben auf Erden – soll heißen, der Chef von Chabad in Brooklyn. Ansonsten muss ich, während sich Schamesröte auf meinen Wangen breitmacht, gestehen, dass ich mit vielen dieser Namen partout nichts anfangen kann: Uri D. Herscher, David Stern, Saul J. Berman? Nie gehört.
Selbstredend kommt ein Rabbi nicht ohne Weiteres auf die »Liste der 50«. Die folgenden Faktoren sind hierbei zu berücksichtigen: Er muss berühmt sein, gesellschaftlichen Einfluss haben, regelmäßig im Fernsehen auftreten und innerhalb der eigenen Gemeinschaft Führungsstärke beweisen. Er muss vor einer Synagoge mit vielen Sitzen predigen und irgendetwas zur Weiterentwicklung des Judentums beitragen. Wer bestimmt, ob ein Rabbi all diese Bedingungen gleichzeitig erfüllt? Die »Newsweek«-Redaktion etwa? Nein, drei Topmanager, die ihrerseits kein Mensch kennt: Michael Lynton, Gary Ginsberg und Jay Sanderson. Angeblich begann die »Newsweek«-Rabbi-Liste als kleines Spiel unter Freunden – vielleicht muss man sich das so vorstellen, dass die Herren Lynton, Ginsberg und Sanderson sich auf ein koscheres Steak trafen und hinterher bei erlesenen Single-Malt-Whiskys ins Diskutieren gerieten. Eines ist dabei sonnenklar: Weder Rabbi Hillel noch Rabbi Schammai hätten, wenn sie heute lebten, auch nur die geringste Chance, von »Newsweek« erwähnt zu werden. Keine Fernsehpräsenz.

Kultur

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