von Tobias Müller
Schuhcheck. Danny Worms (26) lässt seinen Blick durch die Runde schweifen. Fast alle Kinder haben Sneakers an. Danny ist zufrieden. »Ich habe allerdings auch schon mal jemanden mit Absätzen streetsurfen sehen«, sagt er und grinst. »Und, was ist passiert?«, fragt ein Mädchen. »Er hat sich den Fuß gebrochen.« Eine ungewohnte Sache ist das, ein tailliertes Board auf nur zwei mittigen Rollen, dessen Vorder- und Hinterteil durch ein Gelenk miteinander verbunden sind. Gesteuert wird es durch Hüftschwung, Geschwindigkeit erlangt man durchs Balancieren der Füße.
Die meisten der elf Kinder, die an diesem warmen Nachmittag auf einen Spielplatz in Amstelveen südlich von Amsterdam gekommen sind, haben ihre ersten Erfahrungen schon hinter sich. Auch damals war Danny ihr Lehrer. Und der Anlass war ebenfalls eines der Treffen der jüdischen Jugendorganisation Tikwatenoe.
Für Danny ist der Workshop, den er gleich geben wird, eine Brücke in die Vergangenheit. Er ist mit Tikwatenoe groß geworden. Als Achtjähriger begann er, an den Aktivitäten teilzunehmen, die die jüdische Gemeinde in losem Rythmus organisiert. Einmal im Jahr fuhr er zum Wintermachane. Dann ließ er sich zum Leiter aus- bilden und betreute jahrelang selbst Kinder. Inzwischen hat Danny Tikwatenoe hinter sich gelassen – und doch auch wieder nicht. »Viele bleiben auch später in Kontakt.«
In seinem Fall liegt das ein bisschen auch an den Boards, für deren Hersteller er inzwischen arbeitet. Eine Runde über den Spielplatz zeigt, dass seine Bemühungen fruchten. Paarweise erschließen die Kinder sich das Aufsteigen, Abstoßen, dann schlängeln die ersten mit rhythmischen Schwüngen über den Asphalt.
»Das Besondere an Tikwatenoe ist die Offenheit«, sagt Danny. Hierher kommen Kinder aus säkularen Familien ebenso wie aus sehr frommen. Und manche kommen von weither. Jochenan zum Beispiel, der schon ein geübter Betonsurfer ist, reist regelmäßig mit seinen Geschwistern aus Papendrecht an, einem Städtchen bei Rotterdam. Was der 12-Jährige an Tikwatenoe mag? »Dass es so gesellig ist, und dass wir alle denselben Glauben haben.« Letzteres ist eine seltene Erfahrung für ihn, denn in Papendrecht gibt es nur zwei jüdische Familien. Jochanans große Schwester Channa (18) ist inzwischen als Betreuerin dabei. Lachend hilft sie den Kindern, die das bewegliche Board noch nicht zu bändigen wissen, beim Aufsteigen. Zum Selberfahren taugen ihre lila Absatzschuhe eher nicht. Sie mag, dass Äußerlichkeiten hier weniger wichtig sind. »Es ist egal, ob du Markenkleidung trägst.« Für Channa ist Tikwatenoe aber auch ein Versuch, die Jüngeren, die sonst kaum noch Kontakt zur Gemeinde hätten, bei der Stange zu halten.
Den beiden Schwestern Xmira und Sharon stellt sich diese Frage noch nicht. Sie sind begeistert vom leckerem koscheren Essen, den netten Leitern und spannenden Aktivitäten. Vor allem die zehnjährige Sharon, die ihrem ersten eigenen Streetsurfing- Board entgegenfiebert. Xmira und Sharon wohnen gleich um die Ecke, sie kommen aus Amstelveen, wo sich ein großer Teil des jüdischen Lebens der Niederlande abspielt.
Die Kinder aus allen Ecken des Landes strömen zusammen, wenn Tikwatenoe in den Zirkus geht, eine Mazzenfabrik besucht oder zum Schlittschuhlaufen lädt. »Damit nicht alle nach Amsterdam kommen müssen, haben wir auch Veranstaltungen an anderen Orten. Das Motto heißt dann ›Tikwatenoe goes Mediene‹«, erläutert Jordy Waterman (21). Mediene ist die traditionelle Bezeichnung für das niederländische Judentum außerhalb Amsterdams. Anfang Juni findet die nächste Zusammenkunft in Nimwegen statt, auch Maastricht steht auf dem Programm. Und wenige Tage später ist dann mit dem großen Kanu- und Segeltag einer der jährlichen Höhepunkte geplant.
Den integrativen Charakter verkörpern die beiden Leiter auch äußerlich. Jordy trägt Piercings im Gesicht und erinnert mit den langen dunklen Locken an Tommy Erdélyi, den Schlagzeuger der Ramones. Jules Buijs (23) springt mit Kippa aufs Board. Während Jordy schon als Junge bei Tikwatenoe war, ist Jules erst seit einem Jahr dabei. Tikwatenoe ist religiös, der Schabbat und die Feiertage werden vorschriftsgemäß begangen. Dazu kommt mit einem breiten Spektrum an Veranstaltungen eine starke weltliche Komponente und große Offenheit. »Ob du orthodox bist oder nicht, ist egal, solange nur deine Mutter jüdisch ist«, sagt Jordy.
Jules nimmt die hebräische Bedeutung von Tikwatenoe, unsere Hoffnung, wörtlich. »Wir hoffen natürlich, das Judentum weiterzugeben. Aber nicht nur das, auch gesellschaftliches Bewusstsein und ein Gemeinschaftsgefühl.«
Der lebende Beweis, dass diese Vermittlung funktioniert, verteilt unterdessen Saft und Kekse an die Kinder, die eine Pause vom Streetsurfen brauchen. Brigitte ist Anfang 40 und kam schon als Mädchen zu Tikwatenoe. Heute bringt sie ihre zwölfjährige Tochter aus der Nähe von Arnheim. »Ich kenne einige, denen es genauso geht«, sagt sie. Heute bildet Brigitte die Leiter aus. Um die Zukunft ist ihr nicht bange.