von Paul Janositz
Die Schnipsel wirken recht mitgenommen. An ihren Rändern breiten sich braune Flecken aus. Dort sind die hebräischen, aramäischen oder griechischen Schriftzeichen nur schwer zu erkennen, mit denen die Papyrusstücke bedeckt sind. Doch so unscheinbar die Fragmente aussehen, es handelt sich um eine der größten archäologischen Kostbarkeiten, um Urtexte aus der Tora und Kommentare zu biblischen Schriften. Entstanden sind sie in der Zeit zwischen dem dritten Jahrhundert v.u.Z. und dem Jahr 70 nach der Zeitenwende, als der zweite Tempel in Jerusalem von den Römern zerstört wurde.
Gefunden wurden die ersten Schriftrollen in Höhlen bei der Ruinenstadt Qumran am Nordwestufer des Toten Meeres. Im Frühjahr 1947 hatten Beduinen sie in Tonkrügen entdeckt. Später kamen weitere Funde dazu. Inzwischen ist die Zahl auf mehr als 800 Schriftsammlungen auf Papyrus oder Leder gestiegen. Nur 16 Rollen sind intakt geblieben, die anderen sind in mehr als 15.000 Fragmente zerfallen.
Und diese Bruchstücke sind von weiterem Zerfall bedroht. Den gilt es aufzuhalten. Zudem ist trotz intensiver Forschung immer noch nicht eindeutig geklärt, wer die Texte geschrieben hat. Waren es – wie meist vermutet – die Essener, Angehörige einer jüdischen Sekte? Oder wurden sie in Qumran nur gelagert, ohne dass die Essener sie für religiöse Zwecke nutzten? Wenn man wüsste, wo die Rollen hergestellt wurden, könnte man klären, ob sich die Essener mit anderen religiösen Gruppen austauschten oder ob sie abgeschottet lebten. Viele Forscher, Historiker, Religionswissenschaftler oder Archäologen haben die Qumran-Fragmente bereits unter die Lupe genommen.
Eine vielversprechende Kooperation gibt es zwischen Berlin und Jerusalem. Ein Team um Birgit Kanngießer, Physikerin an der Technischen Universität (TU) Berlin, hat sich mit der Arbeitsgruppe von Oliver Hahn an der Berliner Bundesanstalt für Materialprüfung (BAM) und Ira Rabin, Physikerin und Restauratorin an der Jerusalemer Jüdischen National- und Universitätsbibliothek, daran gemacht, die Herkunft einiger Schriftstücke zu klären. Dazu gehören auch wertvolle Fragmente von »Apokryphen« – also außerbiblischen Schriften – zur Genesis. Die Schnipsel wurden, um sie vor dem Zerfall zu schützen, in klimatisierten Koffern von Jerusalem nach Berlin gebracht.
Hier an der TU hat Birgit Kanngießer eine raffinierte Methode entwickelt, um ins Innere der fragilen Qumran-Fragmente schauen zu können, ohne sie zu beschädigen. »Dazu haben wir die Röntgenfluoreszenzanalyse weiterentwickelt«, sagt die Physikerin. Diese Methode macht sich zunutze, dass Röntgenstrahlen Elektronen aus Atomen herausschlagen. Ein anderes Elektron springt auf den freien Platz. Dabei wird Energie in Form von Strahlen frei. Diese Strahlung ist für die einzelnen Atomarten charakteristisch wie der Fingerabdruck eines Menschen. Kanngießer gelang es gleichsam, der Röntgenfluoreszenzanalyse eine 3-D-Brille aufzusetzen. Sie lässt den Röntgenstrahl im Winkel von 45 Grad auf die Probe treffen. Der Detektor, der die von den Atomen in der Tiefe ausgelösten Strahlen aufnimmt, bildet einen Winkel von 90 Grad zur Röntgenquelle. Während die herkömmliche Röntgenfluoreszenzanalyse nur aussagen konnte, wie viel etwa an Kupfer, Eisen oder Chlor insgesamt in einem Schnipsel vorhanden ist, lässt sich mit der 3-D-Methode vorhersagen, wie weit unter der Oberfläche sich welche Menge eines bestimmten Elements befindet.
Die Messungen, die bei der Berliner Elektronenspeicherring-Gesellschaft für Synchrotronstrahlung (BESSY) in Berlin-Adlershof durchgeführt wurden, geben Anlass zur Sorge. Denn der Kupferfraß ist weit fortgeschritten, auch an Stellen, die von außen relativ intakt wirken. »Unter der Oberfläche geht die Zerstörung unaufhörlich weiter«, resümiert Kanngießer.
Bei zwei Fragmenten zeigt die chemische Analyse, dass sie nicht – wie vorher vermutet – zum selben Schriftstück gehören. Das Strahlungsmuster liefert zudem Informationen über die Zusammensetzung der Tuschen. So stellte sich heraus, dass einzelne Fragmente mit unterschiedlicher Tusche beschrieben sind.
Selbst bei der diffizilen Frage, an welchem Ort das Pergament der einzelnen Qumranrollen hergestellt wurde, hilft die Chemie weiter. Denn Wasser aus Gegenden nahe des Toten Meeres enthält relativ viel Brom im Verhältnis zu Chlor. Mit der Entfernung vom Toten Meer ändert sich auch diese Zusammensetzung des Wassers. Da in einigen Fragmenten viel Brom im Verhältnis zu Chlor gefunden wurde, lässt sich schließen, dass diese Schriftstücke in der Nähe des Toten Meeres hergestellt wurden.
Für generelle Aussagen ist es jedoch noch zu früh. »Um über die Herkunft der Apokryphen zur Genesis Aussagen machen zu können, sind zusätzliche Messungen erforderlich«, erklärt Kanngießer. Zudem müsse geklärt werden, ob sich das Brom-Chlor-Verhältnis im Laufe der Jahrtausende geändert hat. Spielt die Art der Lagerung – etwa auf der Erde oder in Tonkrügen – eine Rolle? Wie wirken sich Verunreinigungen aus? All das können die 3-D-Analysen verraten. Anfang April sollen weitere Messungen stattfinden. Dann wird das Geheimnis der Qumran-Rollen ein wenig weiter gelüftet werden.