Freiheit

Gruppendynamik

von Rabbiner Joel Berger

Der dramatische Kampf um die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei Ägyptens nähert sich seinem Höhepunkt. Sieben schwere Plagen musste ganz Ägypten über sich ergehen lassen, und inzwischen wusste jeder im Lande, dass dies wegen der hebräischen Sklaven geschah, die der Pharao nicht gehen ließ, obwohl sie das Land verlassen wollten. Und als Mosche zu Beginn dieser Parascha die achte Plage, die Heuschrecken, ankündigte, meldeten sich auch die Berater Pharaos zu Wort. Sie versuchen, auf den Herrscher vorsichtig Druck auszuüben, er möge die Israeliten doch ziehen lassen: »... erkennst du noch nicht, dass Ägypten zugrunde geht?« (2. Buch Moses 10, 7). Der Pharao scheint die logische Forderung seines Kabinetts beachten zu wollen.
Mosche und Aaron, die Verhandlungsführer der Israeliten, werden eilends in den Palast gebeten. Der Pharao verhandelt nicht lange und sagt: »Geht, dient dem Herren, eurem G’tt!« (10, 8).
Mosche bemerkt die Wandlung in der Haltung des Pharaos und sagt: »Mit unserer Jugend wie auch mit den Alten wollen wir fortziehen; mit den Söhnen und den Töchtern, (sogar) mit unseren Schafen und Rindern wollen wir gehen« (10, 9). Mosche wollte mit diesen Worten betonen, dass es um die Befreiung der Versklavten geht, um den Wert der Freiheit aller Menschen. Außerdem ging es ihm darum zu beweisen, dass die Versklaver, die andere ihrer Freiheit berauben, letztendlich die Verlierer sein werden.
Ob jene modernen christlichen Theologen, die die Ideen der sogenannten Befreiungstheologie entwickelt haben, wohl verstehen würden, dass an Stelle ihrer ab- strakt-fortschrittlichen Gedanken für uns Juden das Abschütteln der sehr konkreten Leiden unserer Vorfahren damals in Ägypten, ihre Befreiung, ihre Rückkehr ins Land der Verheißung steht?
Wenn die heutigen modernen Befreiungstheologen ihre Ideen entfalten, sprechen sie des Öfteren über »Ägypten« und über die »Israeliten« als abstrakte Gegner, ohne konkreten historischen Bezug auf das wahre, biblische Ägypten und Israel. Sie verwenden die Wörter »Israel« und »Ägypten« ohne jegliche Verbindung zu der biblischen Erzählung für die heutigen Unterdrückten in Afrika und Lateinamerika. Die Unterdrückten von heute dürfen wir nicht ausklammern, möchten aber doch darauf hinweisen, dass das einst aus Ägypten befreite Volk auch noch heute lebt und keine Allegorie darstellt.
Auf Mosches Angebot an den Pharao, Jung und Alt, Mann und Frau samt Hab und Gut ziehen zu lassen, lenkte der Pharao nicht ein. Er wollte nur die Männer ziehen lassen. Denn der Tyrann wusste genau, dass die Israeliten ohne ihre Frauen und Kinder nicht abziehen würden. So wurden die »Verhandlungen« mit dem Rauswurf der Hebräerdelegation vorläufig abgeschlossen.
Nach den weiteren Plagen war der Pharao bereit, die Israeliten ohne Wenn und Aber ziehen zu lassen. Da sie den Pharao gut genug kannten, wäre es nur allzu logisch gewesen, schnellstens aufzubrechen und Ägypten zu verlassen, bevor sich der Tyrann eine neue List ausdenken konnte, um seine Sklaven zum Bleiben zu zwingen.
Doch die Israeliten hatten es nicht eilig. Sie nahmen erst noch ihre Zeremonien vor. Einige Tage vor dem Auszug besorgten sich die Familien jeweils ein junges Lamm. Dieses sollte noch in feierlichem Rahmen, jedoch einfach zubereitet, verzehrt werden: »Und so sollt ihr es essen: Eure Lenden gegürtet, eure Schuhe an den Füßen und euern Stab in der Hand; in Hast sollt ihr es essen (also reisefertig zum Auszug) als ›Pessach‹ dem Herrn« (12,11). Als »Überschreitungs-Opfermahl«, da der Herr eure Häuser während der Plagen überschritten hatte.
Dieses »Pessach« (deutsch: Überschreitung) bedeutete eine Freiheit, die man damals nicht durch schnelle, panikartige Flucht errungen hatte, sondern bereits im Land der früheren Unterdrücker und vor deren Augen selbstbewusst feierte und für die spätere Volksgeschichte als Fest der g’ttlichen Befreiung überliefern wollte.
Wenn man bedenkt, dass die Speise des Abends, gebratenes Lamm, für die Ägypter ein Tabu war, dann könnte man behaupten, dass die Demonstration der Befreiung eine gelungene Handlung war. Fa- milien, Nachbarn und Gleichgesinnte kamen zu diesem Nachtmahl vor dem Auszug zusammen. Sie wollten zeigen: Die Freiheit des Volkes ist nicht ohne die Freiheit des Einzelnen vorstellbar. Und der Einzelne kann nur frei in einem befreiten Volke frei werden.
In diesem Abschnitt verkündet die Tora bereits die wesentlichen Gebote für das Begehen der zukünftigen Pessach-Feste (Pessach le’Dorot): das Verzehren von ungesäuertem Brot und die Verpflichtung, von der g’ttlichen Befreiung aus der Knechtschaft zu erzählen. Bis heute bildet diese Geschichte den wesentlichsten Teil des Volkswerdens der Israeliten.
In unserem Kalender ist der erste der Monate Nissan, der Monat der errungenen Freiheit (12,1-2). Das jüdische Jahr beginnt zwar mit dem Monat Tischri, also mit dem siebenten Monat, doch das Gedenken an die Befreiung gab dem Nissan die Priorität.
Im Midrasch ist dazu eine Erklärung zu lesen: Nach der Volksetymologie wird der Name Nissan aus dem hebräischen Wort »Nes« (Wunder, Mehrzahl: »Nissim«) abgeleitet. Der Midrasch bringt einen Vergleich zur Befreiung der jüdischen Sklaven wie auch zur Anordnung der Tora, Nissan als den ersten der Monate zu begehen:
Anlässlich der Geburt seines Sohnes ließ ein König einst ein großes Fest ausrichten. Wenig später wurde der Prinz entführt und blieb lange Zeit in der Gewalt seiner Entführer. Als es endlich gelang, ihn zu befreien, gab der König wieder ein großes Fest und bestimmte den Tag der Befreiung des Prinzen zu dessen Geburtstag. So ist es auch mit der Geschichte der Israeliten, schließt der Midrasch.
In Ägypten fing ihre Zeitrechnung mit dem Beginn ihrer Versklavung an. Doch als der Ewige sie durch seine Wundertaten befreite, begannen sie eine neue Zeitrechnung – von Nissan an. Ähnlich war es mit zahlreichen der Befreiten aus den KZ-Vernichtungsstätten: Auch ihr Befreiungstag war eine Zäsur für sie. Und blieb es.

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

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