von Elke Wittich
Wirklich schlecht waren die kürzlich veröffentlichten regionalen Ergebnisse von IGLU nicht: Die deutschen Viertklässler, international auf einem 11. Platz, können eigentlich recht gut lesen, und – ganz wichtig – Texte verstehen. Kinder mit Migrationshintergrund oder aus armen Familien haben es jedoch schwerer als Schüler aus gut situiertem Elternhaus.
Auf jüdische Grundschulen lässt sich dieses Ergebnis der »Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung« jedoch nicht ohne Weiteres übertragen. Was auch an der besonderen Situation der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion liegt, wie Sibylle Stoler von der Joseph-Carlebach-Schule in Hamburg erklärt. Stoler ist Koordinatorin für die 24 jüdischen Kinder dieser Ganztagsschule, die zusätzlich zu den üblichen Fächern noch in Hebräisch und jüdischen Traditionen unterrichtet werden. Rund 90 Prozent dieser Kinder kommen aus russischsprachigen Familien.
Meist hochgebildet und in der Heimat beruflich gut situiert, erlebten die Kontingentflüchtlinge, dass ihre Abschlüsse in Deutschland plötzlich nichts wert waren und häufig noch einmal komplett wiederholt werden müssen. Diese Eltern möchten ihren Kindern in aller Regel von Anfang an so viel wie möglich für den Start ins Leben mitgeben – und so können frisch eingeschulte Kinder mit russischem Background häufig schon perfekt Russisch lesen und schreiben, wie Stoler beobachtet hat. Was wie eine permanente Überforderung der Kinder durch überehrgeizige Eltern wirkt, ist jedoch oft der Unkenntnis des hiesigen Bildungssystems geschuldet.
In den ehemaligen Sowjetstaaten lernen die Kinder schon in der Vorschule lesen und schreiben, und entsprechend früh halten GUS-sozialisierte Mütter und Väter den Nachwuchs vor der Einschulung hierzulande zum Lernen an. Um ihrer Verunsicherung durch das deutsche Schulsystem zu begegnen, hat man in Hamburg reagiert und beschäftigt seit zwei Monaten eine Kulturvermittlerin. »Sie kennt beide Seiten«, sagt Stoler, »das ist ein ganz großer Vorteil.«
Ist es aber nicht ein generelles Problem, dass Eltern, die nicht gut Deutsch sprechen, ihren Kindern beim Lesenlernen nicht so gut helfen können wie etwa beim Rechnen? »Man kann nicht sagen, dass Kinder aus Zuwandererfamilien generell schlechter lesen als andere«, sagt Antonia Ungar, Leiterin der Münchener Sinai-Grundschule. Generell sei das Thema Lesen sehr wichtig. Schwächen hierin haben nicht nur Auswirkungen auf die Leistungen im Fach Deutsch, erklärt Antonia Ungar. »Sie verstehen beispielsweise Textaufgaben in Mathematik oder Fragestellungen im Sachkundeunterricht nicht. Kinder, die viel lesen, sind auch in anderen Fächern gut.«
Wie aber vermittelt man jedoch auch noch die Freude am Bücherlesen? »Ich lese Geschichten oder ein Kapitel vor, dann dürfen die Schüler in kleinen Gruppen ein oder zwei Stunden lang zu zweit, zu dritt laut lesen, und dann lesen sie zu Hause«, erzählt Ungar. Den Kindern bleibt so erspart, sich vor der Klasse zu genieren, und außerdem weckt der Lesestoff Interesse: »Wir lesen Kinderbücher mit jüdischen Inhalten, die einen Bezug zu Israel oder Judentum haben.« Die kindgerechte Literatur wird von der Jüdischen Literaturhandlung vor Ort bezogen und kann von den Kindern auch ausgeliehen werden.
Die Bemühungen und Angebote der Schule allein machen aus einem Kind jedoch noch nicht automatisch einen guten Leser, ganz wichtig ist auch die Mithilfe des Elternhauses. Viel Zeit bleibt zum Lesenlernen nicht: »Wenn ein Kind bis zum dritten Schuljahr nicht gut lesen kann, geht die Schere in Folge immer weiter auseinander«, und die schulischen Leistungen leiden immer stärker. Trotzdem: »Die Schulreife richtet sich nicht nach der Kenntnis der Buchstaben. Es ist wichtiger, dass ein Kind sich selbst den Po abwischen kann, als dass es das Alphabet beherrscht.«
In der Berliner Heinz-Galinski-Grundschule setzen die Pädagogen vor allem auf das sinnerfassende Lesen. Auch in einer Deutschfachkonferenz habe man das Thema gerade erst besprochen, sagt Schulleiterin Martina Godesa. Es werden Strategien entwickelt, wie das Lesen noch stärker gefördert werden könne.
Bereits jetzt kommen in die unteren Klassen Lesepatinnen, die den Kindern auch vorlesen. Außerdem hat die Schule eine eigene Bibliothek, die jede Klasse einmal in der Woche besucht und die auch in den Pausen besetzt ist. Im Unterricht sollen Leseausweise einen Anreiz bieten, dazu üben die Kinder gemeinsam. Ein Kapitel wird erst dann als gelesen abgestempelt, wenn sich die beiden Partner über den Inhalt einig sind.
»Die Schule kann immer nur ein bisschen machen, Impulse geben, Wege aufzeigen. Wichtig ist auch das Mithelfen der Eltern«, sagt Godesa. Dabei sei unerheblich, ob die Eltern deutsche oder beispielsweise russische Bücher läsen, »es kommt darauf an, dass sie überhaupt hineinschauen.« Lesende Eltern interessieren sich schließlich auch dann für die Lektüre ihrer Kinder, wenn sie die Sprache, in der das Kind liest, nicht so gut verstehen.
Außerdem gelte: »Es hängt nicht mit der Muttersprache, sondern mit dem Intellekt zusammen, ob Kinder etwas erfassen.«