von Miryam Gümbel
Mit einer Aufzählung all der Schritte, die vor 75 Jahren den Weg zur Ausgrenzung und Vernichtung der Juden eingeleitet hatten, begann Hans-Jochen Vogel seinen Beitrag anlässlich der Buchvorstellung des Werks von Sibylle Krause-Burger »Herr Wolle lässt noch einmal grüßen«. Als treuer Begleiter der Veranstaltungen des Kulturzentrums der IKG gratulierte der frühere Münchner Oberbürgermeister Ellen Presser, der Leiterin dieser Einrichtung, zu dessen 25-jährigem Bestehen.
Als Gründer des Vereins »Gegen Vergessen – für Demokratie«, der den Abend mit dem Kulturzentrum und der Deutschen Verlagsanstalt ausgerichtet hatte, betonte Hans-Jochen Vogel, dass der Antisemitismus bereits vor 1933 vorhanden war. Nach der Machtergreifung am 30. Januar 1933 durch die Nationalsozialisten wurden dann mit der »Notverordnung« vom 27. Februar 1933 alle Grundrechte der Weimarer Republik außer Kraft gesetzt. Mit dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März schließlich erfolgte »der Todesstoß für die Demokratie«, wie Vogel es eindeutig benannte. Wenige Tage darauf nahm die antijüdische Politik sichtbare Züge an: Am 1. April folgte der Boykott jüdischer Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte. Mit dieser historischen Auflistung war Vogel dann beim Thema des Abends, dem Buch von Sibylle Krause-Burger, angekommen. Die Politikwissenschaftlerin, Autorin und Publizistin kennt Vogel bereits aus seiner Bonner Zeit. Er zollte der Darstellung ihrer Familie Respekt, die sich »nicht nur an den Verstand, sondern auch an das Gefühl und das Herz der Menschen« richtet. In ihrer Geschichte werde deutlich, dass die Wurzeln des Antisemitismus gerade im christlichen Bürgertum vorhanden seien. Die Mutter von Sibylle Krause-Burger, Edith Wolle, stammt aus einer jüdischen Berliner Unternehmerfamilie. Ihr Vater, Walter Burger, kam aus der schwäbischen Provinz. Beide Familien wohnten in Berlin im selben Haus, die jungen Leute freundeten sich an – eine Liebesgeschichte entwickelte sich. Und diese Liebe war größer als der Widerstand der christlichen Familie gegen die Hochzeit mit einer Jüdin. Zum Glück für die junge Familie hielt sie auch trotz allen Unbilden der folgenden Jahre zusammen. Die schwäbisch-christliche Heimat auf dem Dorf sollte das Überleben garantieren, auch wenn die zum Teil nationalsozialistische Verwandtschaft so einige Schwierigkeiten zu bereiten versuchte.
Sibylle Krause-Burger erlebte mit, wie ihre Großmutter Thekla 1941 den gelben Stern tragen musste. Die Großmutter überlebte den Naziterror nicht. Obschon in Palästina, kehrte sie Mitte der 30er-Jahre zurück nach Deutschland, zu ihrer Tochter und der gerade geborenen Enkelin. Diese, Sibylle Krause-Burger, macht sich später Gedanken über das Schicksal und den Tod der Großmutter: »Ist es möglich, sich bis auf den Grund auszumalen, was ihr geschah? Ob sie vielleicht noch an ein Überleben glaubte? Was sie durchlitt? Wohl kaum. ... zumindest annäherungsweise vorstellen kann ich mir schon, wie sich meine Großmutter, eine gepflegte Berlinerin aus gutbürgerlichen Verhältnissen, nicht mehr jung und ... auch nicht ganz gesund, gefühlt haben muss, als man sie mit anderen in einen Viehwagen verfrachtete, ohne Klosetts, ohne Wasser, ohne frische Luft, ohne Nahrung, ohne Heizung, bei herbstlichen Temperaturen. Keine Möglichkeit, während der tagelangen Fahrt bequem zu sitzen oder gar zu liegen. Deutsche Stimmen, deutsche Befehle drum herum, die eigene Muttersprache, die das in Bewegung setzt, dieser Sadismus, diese Hölle.«
Sie selbst hat überlebt. Ebenso wie ihr Bruder Peter und ihre Eltern. Nach dem Ende der Schreckenszeit entwickelten sich die deutsch-jüdischen Familienbande dann so, wie wohl auch in zahlreichen anderen Familien: Man schwieg weitgehend über das Vergangene. Doch »unter einer sehr freundlichen Oberfläche köchelte es weiter, lebenslang«. Kurz bevor ihr Vater Walter Wolle 1975 starb, hatten die Eltern für die Tochter ihre Erlebnisse auf Band gesprochen. Und sie recherchierte weiter, fand sogar das Grab ihres Großvaters Gustav Wolle. Hans Wolle, der Bruder der Autorin, hatte noch nach Brasilien ausreisen können. 1945 heiratete er dort und 1957 besuchte er das erste und einzige Mal seine Schwester Edith und deren Familie in Stuttgart. Sein Sohn Renato, ein Cousin der Autorin also, war zu der Lesung nach München gekommen. An seinem Beispiel werden bürokratische Folgen der Nazizeit nach 1945 deutlich, die komplizierte Wiedererlangung der deutschen Staatsbürgerschaft.
Diese Episode in der Familiengeschichte war für Sibylle Krause-Burger der Anlass, all das niederzuschreiben, was sie ein ganzes Leben lang bewegt und begleitet hatte. Nun hatte sich für sie ein Kreis geschlossen. »Die ganze Familie Wolle«, so betont sie, »hat wesentlich dazu beigetragen, dass dieses Buch eine sehr authentische Erzählung und mehr als nur geronnene Erinnerung geworden ist.«
sibylle krause-burger:
Herr Wolle lässt noch einmal grüßen.
Geschichte meiner deutsch-jüdischen Familie. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, 256 S. mit 41 Abb., 19,95 Euro