von Carl Goerdeler
Belém do Pará stinkt nach Fusel und Fisch. Schwül trägt die Stadt das Parfüm von Dieselabgasen und gärender Ananas. Schmatzend schwappt der Fluss unter den ächzenden Planken, wenn die Lastenträger keu- chend die Säcke mit Maniokmehl zu den Barken schleppen. Die Baracken und Buden am Salzhafen könnten jeden Moment unter ihren rachitischen Krücken zusammenbrechen und metertief in die Bucht von Guajará hinabstürzen.
In dieser Stadt am Amazonasdelta macht sich keiner mehr die Mühe, sich gegen den Wechsel von Ebbe und Flut, von stechender Sonne und rasenden Wolkenbrüchen zu stemmen. Dies ist das Tor zur Grünen Hölle. Doch den jungen Juden, die vor 200 Jahren, kaum durch die Bar Mizwa mündig geworden, auf englische Dampfer verfrachtet, das tiefgrüne Land erblickten, schien es das Tor zur Freiheit zu sein. Ihre Familien hatten sie aus Tanger, Fez, Marrakesch und Casablanca, wohin sie viele Generationen zuvor wegen der Inquisition in Spanien geflüchtet waren, vorangeschickt. Denn auch in Marokko musste die jüdische Minderheit schwere Verfolgungen erleiden.
Die jungen Männer waren die ersten von einigen tausend Juden, die in Amazonien Zuflucht suchten – just im gleichen Jahr 1808, als der portugiesische König vor Napoleon aus Lissabon türmte und sich mit dem gesamten Hofstaat in der Kolonie Brasilien etablierte.
Es mögen einmal um die 50.000 Juden gewesen sein, die sich in Belém und am Amazonas stromaufwärts niedergelassen hatten. Heute weist so gut wie nichts mehr darauf hin. In der Millionenstadt Belém, der Haupstadt der Provinz Pará, sind es noch 400 Familien, die zur Synagoge Eshel Avraham gehören, und in Manaus zählt man ganze 200 jüdische Familien.
Iana Barcessat Pinto, Leiterin des Centro Israelita do Pará, gehört zu den wenigen, die noch die Religion der Väter hochhält. Ihr Urahn, Fortunato Athias, war 1880 nach Belém gekommen, hatte sich als Schnapsbrenner und Kautschukhändler im nahen Breves niedergelassen. Ianas Großmutter Ana soll noch Haquitia gesprochen haben, den eigentümlichen Jargon aus Spanisch, Portugiesisch, Hebräisch und Arabisch. Vater Isaac Barcessat, 76, ein Agraringenieur, spricht diese Geheimsprache nicht mehr.
Die marokkanischen Juden hatten in Amazonien leichtes Spiel. Sie sprachen ihre romanischen Dialekte und fielen physiognomisch unter der lokalen Bevölkerung kaum auf, zählten aber zu den »Weißen«. Anfangs ließen sie sich am Hafen nieder, dann begannen sie als Regatoes, ambulante Flusshändler, ihre Geschäfte bis tief in die Kapillaren der Amazonaswelt auszuweiten.
Die Wendigkeit wie die Vielsprachigkeit machten viele Juden in Amazonien zu wichtigen Geschäftspartnern vor allem ausländischer Unternehmen – was sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit dem beginnenden Kautschukboom besonders auszahlen sollte.
Die offene Religionsausübung war Juden erst gestattet, nachdem sich Brasilien 1822 durch den unbotmäßigen Sohn des portugiesischen Königs vom Mutterland losgesagt hatte. Nun war England auch in Amazonien die ausländische Macht, die die Fäden zog. Unter englischem Einfluss löste sich das Land aus der kolonialen Starre, und Juden durften Synagogen errichten. So geschah es in vielen Weilern und Dörfern wie etwa in Cametá, wo die Hälfte der Bevölkerung einmal jüdisch war. Die Synagoge des kleinen Ortes hat irgendwann der Strom mitgenommen – geblieben ist einzig die Synagoge von Belém, die 1828 zuerst und 1848 dann erneut errichtet wurde, unweit der Necropole Israelita, deren Portal die Jahreszahlen 1842-1915 zieren.
Bescheidene Denkmale verglichen mit den pompösen Opernhäusern in Belém und Manaus aus der Zeit der Belle Époque, dem Kautschukrausch, als in beiden Städten das elektrische Licht heller erstrahlte als in der Alten Welt. Der Traum von Reichtum und Glück hatte auch jüdische Händler in Amazonien ergriffen, nicht wenige von ihnen machte der Kautschukboom über Nacht zu Millionären. Sie ließen ihre Wäsche in Paris waschen und schickten ihre Söhne zum Studium hinterher. Aber die meisten der Flusshändler mit ihren schmalen Schaluppen konnten nur einen bescheidenen Anteil am Zwischenhandel von Kautschuksammlern und Exportkontoren ergattern.
So gut es ging, blieb man in der großen Stadt Belém unter sich, feierte die jüdischen Feste und verheiratete die Söhne mit sefardischen Töchtern, die aus Marokko nachkamen. Ein Rabbiner, Shalom Moyal, gewann in Manaus lokale Berühmtheit. Er, der an Spanischer Grippe gestorben war, soll noch nach seinem Tod Wunder gewirkt haben. Jedenfalls wurde seine Grabstätte seit 1910 in einer Ecke des Gemeindefriedhofs ein Ort, zu dem viele Menschen zogen.
Wann im Laufe der Zeit die jüdischen Kleingemeinden vollständig aufgesogen wurden in den Mahlstrom der Amazonaswelt und sich schließlich in nichts mehr unterschieden von den Caboclos, wie man die Flussbewohner nennt, die von der Hand in den Mund leben, entzieht sich den Archiven. Das Amazonasgebiet ist zu groß und zu leer, um Traditionen zu stützen. Ganz anders im urbanisierten Süden, in São Paulo, in Rio de Janeiro oder Curitiba, wohin denn auch die jüdischen Kautschukbarone nach dem Crash zogen. Doch das ist eine andere Geschichte.