von larry luxner
Mit ihrer zerstörten Fassade, den mit Brettern vernagelten Fenstern und den Schutthaufen auf dem Bürgersteig sieht die Synagoge der Kongregation Beth Israel von außen nur wie ein verwahrlostes Gebäude in einem heruntergekommenen Bezirk aus. In Wirklichkeit ist es viel schlimmer. Bis auf die farbenfrohen Buntglasfenster im Innern ihres Hauptaltarraums ist fast nichts von der 100jährigen orthodoxen Synagoge übriggeblieben. Ihre einst glänzenden Fußböden sind mit zersplittertem Holz und zerfetzten Gebetbuchseiten übersät. Die Bima steht schief, unweit davon ein zerbrochener, mit Filz überzogener und mit dem Davidstern bestickter Schemel. An einer Fahnenstange hängt stolz die blau-weiße Flagge Israels, doch ist sie von einem schmutzigen Wasserrand verunziert. Hier liegt der Ground Zero des Hurrikans »Katrina« – jedenfalls aus jüdischer Perspektive. Aus der Synagoge hat eine der schlimmsten Naturkatastrophen, die jemals die USA heimsuchten, einen vor sich hin rottenden Müllhaufen gemacht. »Wir wissen nicht, was kommen wird«, sagt Marshall Gerson, ehemaliger Vorsitzender von Beth Israel. »Wir hatten den einzigen täglichen Minjan in New Orleans.«
Obwohl im August 2005 in Louisiana nur vier Juden durch den Wirbelsturm ums Leben kamen – insgesamt gab es in dem Bundesstaat 1079 Hurrikan-Tote – wird die jüdische Gemeinde die Folgen von »Katrina« noch jahrelang spüren. Unversicherte Schäden und ausfallbedingte Verluste bei Synagogen und anderen jüdischen Institutionen belaufen sich laut Eric Stillman, Geschäftsführer der Jewish Federation of Greater New Orleans, auf mehr als 20 Millio- nen Dollar. Gegen Hochwasser waren nur die wenigsten versichert.
Im Verwaltungsbüro von Beth Israel hängt noch ein Kalender, der den Monat August 2005 zeigt. Die Ränder sind vom Schimmel angefressen. Im Joseph-Hurwitz-Studienzentrum am anderen Ende des Flurs sind die Holzbänke umgeworfen. Überall liegen Bücher herum. Der Wasserrand reicht bis zu einer an die Wand gehefteten Kopie des Achinu-Gebets auf Hebräisch und Englisch. Das ist nicht ohne Ironie. In dem Gebet heißt es: »Sollte einer unserer jüdischen Brüder in Gefahr oder Gefangenschaft sein, ob im Ausland oder zu Hause, möge sich der Allmächtige seiner erbarmen und ihn aus der Not zur Errettung, aus der Dunkelheit ins helle Licht, aus der Tyrannei in die Freiheit führen, dringlich, schnell und sehr bald, und so sagen wir: Amen.«
Beth Israel mit zweihundert Mitgliedsfamilien liegt im Vorort Lakeview – vor »Katrina« Heimat von mehr als 15 Prozent der Juden in New Orleans. Heute ist Lakeview eine Geisterstadt, wo Reihe um Reihe verlassener Häuser darauf warten, abgerissen zu werden. Von außen sehen die Häuser relativ intakt aus, im Inneren sind sie völlig ruiniert. Sie standen einen Monat lang zehn Meter unter Wasser.
»Wir glauben, daß das Gebäude von der Bausubstanz her wiederaufgebaut werden könnte«, sagt Beth-Israel-Funktionär Eddie Gothard. »Es gibt Bundesgesetze und Vorschriften des Staates Lousiana und der Regionalbehörden zur Traufhöhe. Aber wenn man unter einer gewissen Höhe liegt, bekommt man keine Erlaubnis zum Wiederaufbau.« Allein das Auswechseln der Leitungsrohre mit den nötigen Klempner- und Tischlerarbeiten würde 420.000 Dollar kosten. »Dann muß alles desinfiziert werden«, sagt Gothard, »dafür braucht man entsprechende Geräte. Es gibt keinen Strom in der Nachbarschaft, und das könnte noch ein Jahr oder länger so bleiben.«
Beth Israel ist die einzige orthodoxe Synagoge in New Orleans, einer Stadt, deren jüdische Bevölkerung zu 70 Prozent dem Reformjudentum angehörte. Außerdem gibt es vier reformierte Gotteshäuser, eine konservative Synagoge und zwei Chabad-Zentren. Keine dieser Einrichtungen wurde so schwer beschädigt wie Beth Israel.
Eric Stillman schätzt, daß vor »Katrina« etwa 9.500 Juden in New Orleans gelebt haben. Fast die Hälfte floh vor Ankunft des Wirbelsturms nach Houston; andere verschlug es nach Baton Rouge, Atlanta, Dallas und Memphis. Bis zum 29. Dezember waren 4.250 Juden zurückgekehrt, fast 45 Prozent der Gemeinde. »Wir hatten 3.600 jüdische Haushalte erfaßt, von 2.190 haben wir eine Nachricht erhalten«, sagt Stillman. »Bis jetzt haben lediglich 257 Familien zu erkennen gegeben, daß sie vielleicht oder ganz sicher nicht wiederkommen werden. Es sind immer noch viele, die zurückkehren wollen, und ihre Zahl wird steigen.«
Der Anlageberater Mike Stern, 42, überstand »Katrina« in der Stadt Monroe, Lousiana, nachdem er am Tag des Sturms New Orleans um 3.30 Uhr morgens mit seinem Hund verlassen hatte. »Viele meiner Kunden sind ältere Juden, die zu ihren Kindern gezogen sind und wahrscheinlich nicht wiederkommen werden«, sagte Stern, der der Sinai-Synagoge angehört, einer Reformgemeinde im Vorort Metairie. Man rechne mit einem Nettoverlust der jüdischen Bevölkerung von zehn bis dreißig Prozent, schätzt Stillman.
Linda Waknin gehört nicht dazu. Die Israelin ist Besitzerin von »Casablanca«, einem koscheren Restaurant mit nahöstlicher Küche in Metairie. Trotz Sturmschäden in Höhe von 180.000 Dollar sah sie keine andere Wahl, als ihr Restaurant wieder zu öffnen. »Ich hatte die Einrichtung versichert, aber nicht den Einkommensverlust«, sagt sie. Allmählich kommen wieder mehr Gäste. Das liegt an den jüdischen Freiwilligen, die Häuser und Synagogen sanieren wollen. »Viele Juden besitzen kleine Läden. Sie können nicht ohne weiteres fort gehen«, glaubt Ashley Klapper, stellvertretende Leiterin einer jüdischen Freiwilligenorganisation aus Baltimore, Maryland.
Im Haus von Elissa Bluth stand das Wasser nach dem Hurrikan über einen Meter hoch. Ihr Mann und sie waren mit 350.000 Dollar gegen Hochwasser und Sachverluste versichert gewesen. Doch der Wert ihres Hauses, sagt sie, habe zwischen 600.000 und einer Million Dollar betragen. »Wenn man die Verwüstung auf einer Skala von null bis zehn messen würde«, sagt Bluth im Wohnzimmer ihrer Tochter Marjorie, die inzwischen ein anderes Haus gemietet hat, »dann waren wir bei neun Komma neun.«