von Frank Heinz Diebel
In Barnet im Norden Londons haben im Januar die Bauarbeiten für ein ehrgeiziges Vorhaben begonnen: die Jewish Community Secondary School, kurz: JCoSS. Sie soll im September 2010 ihren Unterrichtsbetrieb aufnehmen und die erste überkonfessionelle jüdische Gesamtschule Großbritanniens werden. Mehr als 57 Millionen Euro kostet das gigantische Projekt. 40 Millionen Euro stellt die britische Regierung zur Verfügung, der Rest soll durch Spenden finanziert werden. 6,3 Millionen sind bereits zusammengekommen – und das in fünf Monaten!
Die JCoSS ist das kostspieligste Projekt der anglo-jüdischen Gemeinde und die teuerste staatliche Gesamtschule Großbritanniens. Abgesehen von dem futuristisch anmutenden Schulgebäude wird die JCoSS über eine Mehrzweckhalle, eine Synagoge, ein Theater sowie 50 Plätze für Kinder mit autistischen Störungen verfügen. Die 1.310 Schüler sollen jede Woche etwa fünf Stunden in Jüdischen Studien unterrichtet werden und sich darüber hinaus auch mit anderen Religionen beschäftigen. Mädchen und Jungen werden überwiegend gemeinsam unterrichtet. Zur Schuluniform gehört eine Kippa, doch ob man sie trägt, entscheidet jeder selbst. Es soll kein bestimmter Rabbiner für die Schule zuständig sein, stattdessen will sich die Schulleitung um gute Kontakte zu verschiedenen jüdischen Gemeinden in London bemühen.
Mehr als 1.800 Eltern haben auf der Webseite der Schule bereits ihr Interesse bekundet. »Wir versuchen eine überkonfessionelle Strategie zu verfolgen für Eltern, die aus irgendeinem Grund mit dem bestehenden Angebot nicht zufrieden sind«, sagt Robert Shrager, Vorsitzender der Schulkonferenz. Dabei sieht sich die Lehranstalt keineswegs in Konkurrenz mit bestehenden jüdischen Schulen. Die Jewish Community Secondary School begrüßt Bewerbungen von Juden aller Richtungen, will jedoch solche Kinder bevorzugen, denen ein Platz auf einer orthodoxen Schule verweigert wurde. »Wir versuchen in keiner Weise das Judentum zu verwässern«, sagt Shrader, »sondern wir sagen, verschiedene Menschen praktizieren es auf unterschiedliche Weise.«
Die Idee für die JCoSS geht auf Helena Miller zurück. Sie war bis vor Kurzem Direktorin für Erziehung und Entwicklung an einer rabbinischen Hochschule in London und arbeitet jetzt für die britische Organisation United Jewish Israel Appeal. Vielen Schulkameraden ihres elfjährigen Sohnes wurde der Zugang zur renommierten Londoner Free Jewish School (FJS) verwehrt, weil sie in den Augen des britischen Oberrabbinats nicht als Juden galten. Miller schickte Fragebögen an 2.000 Elternhäuser, um herauszufinden, wie groß das Interesse an einer neuen jüdischen Gesamtschule wäre. 500 Familien antworteten – das Projekt »JCoSS« war geboren.
Nur fünf der 38 staatlich finanzierten jüdischen Schulen Großbritanniens führen zum Abitur. Ihre Aufnahmepolitik wird vom britischen Oberrabbinat überwacht. Anspruch auf einen Platz an diesen Schulen hat nur derjenige, den Oberrabbiner Jonathan Sacks als Jude anerkennt.
Zu den bekanntesten dieser Einrichtungen gehört die FJS. Mit 2.000 Schülern ist sie die größte orthodoxe Schule Europas. In der jüdischen Welt genießt sie hohes Ansehen. In den vergangenen Jahren fiel sie nicht nur durch lange Wartelisten und hervorragende Leistungen ihrer Schüler auf, sondern machte auch negative Schlagzeilen: Mehrfach wurde Kindern jüdischer Ehepaare die Aufnahme verweigert, weil die zum Judentum konvertierten Mütter vom Oberrabbinat nicht als Jüdinnen anerkannt wurden. Verschiedene Elternpaare versuchten, die Aufnahmepolitik der FJS per Gerichtsbeschluss zu lockern, scheiterten aber an der britischen Justiz. Ein englisches Gericht entschied, dass jüdischer Status nur nach jüdischem Recht definiert werden könne, und dies sei nicht Sache weltlicher Gerichte.
Viele Juden glauben, dass die Richtlinien für die Aufnahme in Sacks »Verein« – wie das englische Judentum von der britischen Presse ironisch genannt wird – zu streng sind. Rabbiner Danny Rich, Vorsitzender der Reformbewegung Liberal Judaism hält die Aufnahmepolitik etlicher jüdischer Schulen für zu strikt: »Liberale Juden sind der Ansicht, dass staatlich finanzierte jüdische Schulen dem Wohl aller jüdischen Kinder dienen sollen.«
Andere gehen noch weiter. »Wenn man der Religion gestattet, die Aufnahmepolitik von Schulen zu gestalten«, entrüstet sich Terry Sanderson, Vize-Präsident der britischen National Secular Society, »führt das genau zu dieser Form von Diskriminierung und Ungerechtigkeit«. Man solle die Zulassungsbestimmungen abschaffen und diese Schulen jedem Mitglied der Gemeinschaft zugänglich machen.
Alle britischen Schulen werden im Abstand von vier Jahren von Inspektoren des Office for Standards in Education, Children’s Services and Skills (OFSTED) kontrolliert. Außerdem werden alle Schüler der Klassen 6, 10 und 12 jährlichen Abschlussprüfungen unterzogen. Testergebnisse und Inspektionsberichte werden im Internet veröffentlicht. Das setzt mitunter einen Teufelskreis in Gang: Schulen mit guter Bewertung haben schnell lange Wartelisten. Umgekehrt werden Einrichtungen, die dem Schulamt missfallen, zum Auffangbecken für leistungsschwache Schüler.
Könnte der JCoSS ein ähnliches Schicksal blühen? Nein, wenn man Sprecher Ben Rich glauben darf: »Wir denken, dass wir einen besseren Ruf haben werden als andere jüdische Schulen.«
Doch gibt es überhaupt Bedarf für eine weitere jüdische Schule in London? Die 300.000 Mitglieder starke jüdische Gemeinde Großbritanniens schrumpft stetig und mit ihr die Zahl der schulpflichtigen Kinder. Laut der jüdischen Dachorganisation, dem Board of Deputies of British Jews, sollen in zehn Jahren 1.135 jüdischen Schülern 1.010 Plätze an Londoner jüdischen Schulen zur Verfügung stehen. Die langen Wartelisten werden bald Geschichte sein. Entbrennt dann ein Kampf um die Schüler? Die JCoSS scheint auf ein Wettrennen vorbereitet zu sein: Ben Rich lässt keine Zweifel daran, dass seine Schule starke Geschütze auffahren will.