von Jonathan Scheiner
Unter Wissenschaftlern ist Schrulligkeit salonfähig. Aber die Fields-Medaille auszuschlagen, die als Nobelpreis der Mathematik gilt, das ist mit Schrulligkeit kaum mehr zu begründen. Seit 1936 ist Grigori Perelman der erste Mathematiker, der den Ritterschlag nicht angenommen hat. Ruhm scheint den 1966 in St. Petersburg geborenen Sproß jüdischer Eltern nicht zu interessieren. Geld auch nicht. Eine runde Million stünde Grigori Jakovlewitsch Perelman zu, wenn er seine Erkenntnisse in einem Fachmagazin publizieren würde. Aber er hat sich zurückgezogen. »Grischa« soll mit ungeschnittenen Haaren und Fingernägeln bei seiner Mutter untergekrochen sein.
Dabei sah alles nach einer Bilderbuchkarriere aus. Als 16jähriger Schüler gewann er 1982 eine Goldmedaille bei der Internationalen Mathematik-Olympiade. Danach promovierte er an der Fakultät für Mathematik und Mechanik an der Universität seiner Heimatstadt. Anschließend arbeitete Grigori Perelman am dortigen Steklow-Institut für Mathematik. Ende der 80er Jahre ging er in die USA, wo er ein paar Semester als Post-Doktorand verbrachte, darunter an der State University of New York und an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Doch er kehrte trotz üppiger Jobangebote ans Steklow-Institut zurück. Es heißt, er habe danach meist in der Datsche eines Freundes vor sich hin gebrütet.
Im November 2002 stellte Perelman seine bahnbrechenden Entdeckungen ins Internet (www.arxiv.org), gratis und frei zugänglich. Erst auf die verdutz- te Nachfrage eines neugierigen Kollegen, ob es sein könne, daß er die berühmte Poincaré-Vermutung bewiesen habe, gab Perelman spröde zu: »Das ist korrekt«. Die Beiläufigkeit war fehl am Platz. Denn offenbar hat der Russe eine der härtesten Nüsse der Mathematik geknackt. Dafür liegt In Cambridge/Massachusetts eine Million Dollar bereit, die das renommierte Clay Mathematics Institute im Jahr 2000 für die Lösung eines der sieben wichtigsten mathematischen Probleme auslobte. Aber Perelman weigert sich, seine Berechnungen in einem Fachmagazin zu publizieren – was die Voraussetzung für die Auszahlung der Summe wäre.
Furcht vor einer Niederlage kann Perelman kaum treiben. Die Fachwelt ist sich einig, daß seine Berechnungen richtig sind – wofür die Verleihung der Fields-Medaille vergangene Woche in Madrid spricht. Perelman war nicht dabei, aber immerhin per Videobotschaft zugeschaltet. »Wenn sich zeigt, daß meine Beweisführung stimmt, brauche ich keine weitere Anerkennung. Ich habe von Anfang an gesagt, daß ich die Auszeichnung ablehnen werde. Die Medaille ist für mich völlig unbedeutend«, sagte er der Zeitschrift »The New Yorker«.
Vereinfachend gesprochen tangiert Perelmans Entdeckung das Phänomen der Raumkrümmung, genauer die Vermutung, daß das Weltall eine Kugel ist. Fliegt eine Rakete durchs All immer geradeaus, kommt sie am Ende wieder an derselben Stelle an. Benannt ist das Phänomen nach dem Franzosen Henri Poincaré, der 1904 vermutete: Läßt sich eine ununterbrochene Linie auf einer Oberfläche so verkürzen, daß es nicht mehr weitergeht und es sich nur noch um einen Punkt handelt, so muß dieser eine Kugel sein. Der Franzose mutmaßte, das Phänomen müsse auch für drei und mehr Dimensionen gelten.
Heute ist der mathematische Beweis von Poincarés Vermutung für fast jede Dimension erbracht worden. Für die vierte wurde dies vor Jahren mit der Fields-Medaille geehrt. Nur die Kugelhaftigkeit der dritten Dimension konnte bislang nicht belegt werden. Dafür mußte Perelman die Topologie verlassen und auf andere Fachgebiete ausweichen. Vor einem Monat haben Wissenschaftler der Columbia-Universität ein fast 500-seitiges Kompendium veröffentlicht, in dem sie die Ideen erläutern. Perelman aber schweigt. Das Universum – eine Kugel? Dazu hat er doch schon alles gesagt.