von Rabbiner Paul Steinberg
Rosch Haschana ist eine Zeit der Wiedergeburt. Der Herbstfeiertag bringt eine andere Wiedergeburt als der Frühling: Nach Monaten mörderischer Hitze und Fäulnis wird die Erde mit Tupfen von Septembergrün aufgefrischt. In Israel tragen die Palmen im Herbst honigsüße Datteln, die unserer Feier des Geburtstags des Universums ihr Aroma verleihen. Während die Erde sich physisch erneuert, erneuern wir uns spirituell.
Deshalb ist Rosch Haschana, das auch Tag des Gedenkens heißt, traditionell die Zeit für Heschbon Nefesch, eine Bestandsaufnahme der Seele. Bei meiner Bestandsaufnahme stelle ich fest, dass ich mir mehr denn je über die Vorstellung des Judentums von der Erde Gedanken mache. Ich erinnere mich an einen G-8-Gipfel, auf dem diskutiert wurde, wie Staaten auf globale Erwärmung und die CO2-Emissionen reagieren sollten. Ich erinnere mich, wie der UN-Klimareport verkündigte, es sei »sehr wahrscheinlich«, dass menschliches Handeln die Ursache für die »zweifelsfreie« Erderwärmung und den Klimawandel ist. Ich erinnere mich auch an die Kontroverse über den oscargekrönten Doku- mentarfilm »Eine unbequeme Wahrheit«. Wieder und wieder werde ich daran erinnert, dass die Erde und damit auch die Menschheit auf eine Krise zusteuern.
Wird dieses Rosch Haschana ein geschärftes Bewusstsein dieser Krise und Tschuwa, bedeutsame Veränderung, bringen?
Kurz vor seinem Tode ließ Jerry Falwell, Gründer einer der größten evangelikalen Lobbys in den USA, eine Tirade vom Stapel, in der er die Umweltschützer verspottete und alle attackierte, die die globale Erwärmung auch nur für möglich halten. Er bot Interpretationen biblischer Verse zum Beweis und kam zu dem Schluss: »Natürlich müssen wir Müll auflesen.« Aber, fügte er hinzu, »wir sollten keine Bäume umarmen und die Natur mehr anbeten als den Schöpfer.«
Obwohl Falwell hier Erde und Umwelt aus einer religiösen Perspektive betrachtet, ist sie der jüdischen Anschauung entgegengesetzt. Jeder aus der Tora abgeleitete jüdische Feiertag wird zu Ehren der Erde und des Kreislaufs der Jahreszeiten begangen. Maimonides lehrte, wir würden lernen, Gott zu lieben, zu ehren und zu kennen, wenn wir »die wunderbaren und großartigen Taten und Schöpfungen Gottes betrachten«. Wohl heißt es im ersten Kapitel des 1. Buches Moses, dass die Menschheit über alle Geschöpfe der Erde »herrschen wird« und der Höhepunkt der Schöpfung ist, das bedeutet aber in keiner Weise, dass alles, was vor der Menschheit war, nicht zählt. Gott bezeichnet die Schöpfung jedes Tages ausdrücklich als »gut«. Die mittelalterliche Sammlung von Midraschim, Pirke de Rebbe Eliezer, behauptet, wenn die Genesis den Menschen als »Herrscher« auszeichnet, sei damit seine Rolle als »geistiger Führer« gemeint, der die Schöpfung einen soll, um »Gott, der uns alle erschaffen hat, zum König zu machen«.
Rosch Haschana ist die richtige Zeit, sich an die Moral der Schöpfungsgeschichte zu erinnern, unseren einzigartigen Status als Herren der Erde anzuerkennen, dabei aber die wesentliche theologische Aussage des Judentums herauszustreichen: Gott ist der Schöpfer des Universums, es gehört ihm. Denken wir daran, wenn wir Gott um den alljährlichen Segen bitten. Im Gebet des Dichters in unserem Gebetbuch für die Hohen Feiertage klingt es wider: »In Deiner liebenden Güte und Treue, o Herr, unterstütze Deine Welt, über die in den vier Jahreszeiten jedes Jahres geurteilt wird ... Wenn Du die Erde an diesem Rosch Haschana besuchst, beschenke sie mit Rechtschaffenheit, mit Früchten und Tau, Regen und Wärme ...«
Die wesentliche Lehre von Rosch Haschana und den Herbstfeiertagen ist zweifach: dass wir als Menschen unglaubliche Macht besitzen, wofür wir dankbar sein müssen, und dass wir dieser Macht Grenzen setzen müssen.
Genau das Gegenteil von dem, was Falwell predigte, ist wahr: Wir sind die Bewahrer der Erde, denn Gott nahm den Menschen »und setzte ihn in den Garten von Eden, damit er ihn bebaue und hüte« (1. Buch Moses 2,15). Wenn wir lediglich Müll aufsammeln, mindern wir den Schöpfungsplan Gottes. Unsere Rabbiner erläutern: »Als Gott die ersten Menschen erschuf, führte Gott sie durch den Garten von Eden und sagte: ›Seht auf meine Werke! Seht, wie wunderschön sie sind – wie vortrefflich! Euretwillen erschuf ich sie alle. Sorgt dafür, dass ihr Meine Welt nicht verderbt und zerstört; denn wenn ihr das tut, wird es niemanden geben, es wieder gutzumachen‹« (Midrasch, Kohelet Rabbah).
Die Wissenschaft lehrt uns, dass die Erde und ihre verschiedenen Ökosysteme in einem empfindlichen Gleichgewicht leben. Unsere Tora lehrt uns, dass wir dieses Gleichgewicht schützen und erhalten müssen. Es kommt auf unsere Taten in der Welt an. Und es ist die Absicht hinter diesen Taten, unsere Hingabe an Tikkun Olam – eine unvollkommene Welt besser zu machen –, die unseren heiligen Pakt mit Gott kennzeichnen.