von Wladimir Struminski
Viele ultraorthodoxe Familien haben dieser Tage eine neue Sorge: Woher sollen sie im kommenden Jahr 5768 Obst und Gemüse hernehmen? 5768 ist nämlich ein Schmittajahr. Das bedeutet: Alle jüdischen Äcker, Weinberge und Gärten im Lande Israel müssen brachliegen. Wie die Heilige Schrift bestimmte, darf jedes siebte Jahr weder gesät noch gepflügt werden. Selbst was wild wächst, muss Armen und Tieren des Feldes überlassen werden.
An diese strenge Auslegung hält sich heute nur eine Minderheit der israelischen Juden. Seit der Wiedergeburt der jüdischen Landwirtschaft in Israel vor fast anderthalb Jahrhunderten wurde eine Reihe halachischer Instrumente entwickelt, mit denen sich das strikte Verbot umgehen lässt. Das wichtigste von ihnen ist die sogenannte Verkaufserlaubnis. Hierbei wird alles jüdische Ackerland für die Dauer des Schmittajahres pro forma an einen Nichtjuden verkauft. Dadurch arbeitet der jüdische Agrarwirt für den nichtjüdischen »Hausherrn« und kann seine Ware auf den Markt bringen. Wie ein Vertreter des Landwirtschaftsministeriums der Jüdischen Allgemeinen erläuterte, kam der Heter Mechira, so der hebräische Fachbegriff, bereits 5642 (1881) mit rabbinischem Segen zum Einsatz. Den Schriftgelehrten war klar, dass die volle Befolgung der Schmittagebote das jüdische Siedlungswerk gefährden würde. Mit der Verkaufserlaubnis trugen sie zu dessen Erhaltung bei. Allerdings ist diese Praxis halachisch umstritten. Anhänger der reinen Lehre sehen sie als grundsätzlich unzulässig an. Andere Kritiker behaupten, dass der Staat Israel – heute eine moderne Wirtschaftsmacht – die Einhaltung des Brachjahres im 21. Jahrhundert problemlos verkraften kann. Daher sei die existenzielle Notlage, mit der der Heter Mechira begründet werde, nicht mehr gegeben.
Viele fromme Juden rühren Obst und Gemüse aus scheinverkauften jüdischen Agrarböden nicht an. Nach Schätzung des Landwirtschaftsressorts handelt es sich immerhin um 15 Prozent der jüdischen Bevölkerung, also um mehr als 800.000 Menschen. Für sie mussten andere Methoden entwickelt werden. So etwa überlassen Landwirte ihren Boden und die darauf angebauten Produkte einem Treuhänder. Dieser entschädigt die Landwirte nur für die Produktionskosten und verkauft die Erzeugnisse auch seinerseits zum Selbstkostenpreis. Damit gilt der Verkauf nicht als verbotener Schmitta-Handel. Andere gesetzestreue Verbraucher führen sich Feldfrüchte zu
Gemüte, die auf künstlich angelegten Anbauflächen oberhalb der Erde angebaut wurden – eine Art Hängegärten. Dem Einfallsreichtum der Agrarwirte sind keine Grenzen gesetzt. So füllt die israelische Firma Chischtil im Vorfeld des kommenden Brachjahrs die hängenden Anbauflächen mit gemahlenen Kokosnussschalen. Das Abfallprodukt, das sich als fruchtbarer Agrarboden verwertbar erweist, wird aus Indien importiert.
Allerdings stehen vor allem Ultraorthodoxe auch solchen Erfindungen skeptisch gegenüber. Sie beziehen ihre Vitaminträger lieber von Palästinensern und israelischen Arabern. Und gerade hier, warnte die ultraorthodoxe Zeitung »Bakehila«, schrumpft das Angebot. Wegen der Kämpfe zwischen der Fatah und der Hamas, so die Zeitung, lässt der Ackerbau im Gasastreifen nämlich nach. Das wiederum führt zu einem Rück-gang der für den Export nach Israel bereitstehenden Produktmengen. In Israel selbst haben sich viele Juden als Partner in bisher rein arabische Landwirtschaftsbetriebe eingekauft. Damit scheiden die betreffenden Gehöfte als Lieferanten von Ware aus. Um sicherzugehen, dass sie ihre Einkäufe bei ausschließlich nichtjüdischen Agrarunternehmen tätigen, prüfen die ultraorthodoxen Beschaffungsorganisationen sorgfältig die Betriebsunterlagen. Ein weiterer Teil der im Landeszentrum gelegenen arabischen Feldflächen fiel seit 5761, dem letzten Schmittajahr, der neuen Trans-Israel-Autobahn zum Opfer.
Als letzter Ausweg bleibt die Einfuhr aus Übersee. Allerdings bedürfen Importe von Agrarprodukten einer Sondergenehmigung des Landwirtschaftsministeriums. Und dieses will eine Überschwemmung des Marktes mit ausländischen Erzeugnissen verhindern. »Es ist unsere Politik, einheimische Produkte nach Möglichkeit zu bevorzugen«, heißt es im Agrarressort. Dennoch sollen alle Bürger Obst und Gemüse auch im Schmittajahr zu vernünftigen Preisen kaufen können. Ob das wirklich geht, wird sich zeigen. »Versorgung über Importe wird die Preise in die Höhe treiben«, warnen ultraorthodoxe Ex-
perten. Beispielsweise könne der Kilopreis von schmittagerechten Tomaten fünfzehn bis zwanzig Schekel erreichen: umgerechnet 2,70 Euro bis 3,60 Euro. Diese Teuerung entspräche einer Verdoppelung, wenn nicht Verdreifachung des in einem normalen Jahr herrschenden Preisniveaus. Das können sich viele einkommensschwache und kinderreiche ultraorthodoxe Familien schlicht nicht leisten. »Wie es scheint«, unkt Rabbiner Gabriel Pappenheim, Leiter des Kaschrutkomitees der ultraorthodoxen Gruppe Eda Charedit, »kehren wir zur Tempel-Ära zurück, in der es während der Schmitta kein Gemüse gab. Diesmal wird es zwar Gemüse geben, aber nur für Reiche.« Oder eben für die weniger Frommen, die es mit dem Brachjahr nicht ganz so genau nehmen.
Buchstabengetreue Einhaltung der Schmittaregeln gibt es nicht nur bei Verbrauchern, sondern auch bei den jüdischen Anbietern. Orthodoxe Landwirte lassen ihre Böden tatsächlich brachliegen. Dafür werden sie vom Staat finanziell entschädigt. Allerdings ist die Zahl der superfrommen Bauern überschaubar: Vor sieben Jahren waren es gerade mal 400.