von Martin Krauss
Irina Risenzon ist 20 Jahre alt. Das ist für eine Sportlerin der Rhythmischen Sportgymnastik schon vergleichsweise alt. Umso intensiver wünscht sich die in der Ukraine geborene Israelin eine olympische Medaille, möglichst in Gold. »Das ist der Traum«, sagte sie jüngst der Jerusalem Post. Die Zeitung hatte sie und die anderen israelischen Gymnastinnen sehr einfühlsam porträtiert.
In Peking nimmt Israel zum ersten Mal in seiner Geschichte am olympischen Wettbewerb in der Rhythmischen Sportgymnastik teil. Und zur Verblüffung aller Experten des israelischen Sports gehören die Gymnastinnen sogar zum erweiterten Favoritenkreis: Bei der Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr im griechischen Patras belegte Irina Risenzon, die beste Israelin, Platz sieben der Gesamtwertung. Noch aussichtsreicher sind Israels Chancen auf eine Medaille im Mannschaftswettbewerb: Bei der WM und bei der EM im aserbaidschanischen Baku belegte das Team rund um Irina Risenzon Platz fünf! Zum Vergleich: Deutschland erreichte bei der EM Platz 16.
»Die israelische Rhythmische Sportgymnastik ist in der UdSSR geboren«, schreibt die Jerusalem Post. Sechs der acht Mitglieder der Nationalmannschaft sind sowjetische Immigrantinnen, und die zwei Sabras sind Töchter von solchen. In ganz Israel gibt es mittlerweile 3.000 Mädchen und junge Frauen, die diesen Sport betreiben.
Ira Vigdorchik betreibt selbst zwei große Gymnastikschulen, eine in Holon überwiegend für jüdische Mädchen, eine in Jaffa für arabische Mädchen. »Der Sport ist mittlerweile sehr populär«, sagt Vigdorchik, die schon 1979 nach Israel kam. Sie hätte so etwas wie die erste israelische Olympiagymnastin werden sollen, denn sie war nominiert für die Spiele 1980 in Moskau. Doch Israel boykottierte damals gemeinsam mit vielen anderen westlichen Ländern die Spiele. »Jetzt schließt sich der Kreis«, sagt sie und meint damit zweierlei: Zum einen, dass endlich Gymnastinnen mit dem Davidstern auf dem Trikot unter den olympischen Ringen antreten werden. Zum anderen, dass die Rhythmische Sportgymnastik kurz davor ist, in Israel als seriöse Sportart anerkannt zu werden.
Der Durchbruch hat nicht nur damit zu tun, dass es ein paar sehr gute Sportlerinnen und sehr gut ausgebildete Trainerinnen aus der Sowjetunion gibt. Die Sportart selbst ist eine Art Vermächtnis der Sowjet-union. In den 20er- und 30er-Jahren hatte die UdSSR die Olympischen Spiele boykottiert. Mit dem »bürgerlichen Rekordsport« wollte man nichts zu tun haben, es wurde der an der »allseitigen Ausbildung der sozialistischen Persönlichkeit« ausgerichtete Arbeitersport betrieben. Als die Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg in das Inter-
nationale Olympische Komitee eintrat, wollte sie eine Art Mitgift mitbringen. »Zur Entwicklung der Künstlerischen Gymnastik für Frauen« heißt ein Beschluss des sowjetischen Allunionsko- mitees vom 22. Oktober 1946. Er gilt als die Geburtsurkunde der Rhythmischen Sportgymnastik. Es war der sowjetische Versuch, die frühere Ideologie nicht komplett über den Haufen zu werfen, wenn man nun im Weltsport erfolgreich mitmischen wollte. Also beschloss man, die in den 20er-Jahren praktizierte betriebliche Frauengymnastik einfach zu einer Wettkampfsportart zu ent- wickeln.
Das geschah sozialistisch-planmäßig: Der Sport, der zunächst noch »Künstlerische Gymnastik« hieß, wurde 1947 und 1948 in Schauwettkämpfen vorgeführt, 1949 gab es die ersten Meisterschaften der
UdSSR. Das Reglement der Sportart mit Seilen, Reifen, Keulen und Bändern wurde weiterentwickelt, 1963 gab es die erste Weltmeisterschaft. Aber olympisch, was ja das wichtigste Kalkül des Allunionskomitees gewesen war, wurde der Sport noch lange nicht. Bei den Olympischen Spielen 1980 in Moskau schaffte man es, den Sport als Demonstrationswettbewerb ins Programm zu nehmen, und ausgerechnet 1984 in Los Angeles, als außer Rumänien alle mit der Sowjetunion verbündeten Länder die Olympischen Spiele boykottierten, war er erstmals offiziell im Programm.
Seit Ende der 70er-Jahre gibt es die Rhythmische Sportgymnastik auch in Israel. »Wir brauchen von der Regierung mehr Geld«, sagt Ira Vigdorchik. »Und wir brauchen Sponsoren.« Das aber sagen beinahe alle israelischen Trainer, wenn sie nicht gerade im professionellen Männerfuß- oder -basketball beschäftigt sind. »Für solche Trainer, die im sowjetischen Sportsystem aufgewachsen sind, wo die Ausbildung von Sport und Sportlern eine der höchsten nationalen Prioritäten besaß«, schreibt die Journalistin Dina Kraft, »kann der Kontrast in Israel erschütternd sein.«
Ela Samotalov etwa, die verantwortliche Nationaltrainerin für den Mannschaftswettbewerb, kam 1991 aus Minsk. Seit nunmehr 17 Jahren versucht sie, sich an die israelischen Sportstrukturen anzupassen. »Aber«, sagt auch Samotalov, »die Sabras lernen schnell. Sport ist schließlich kein Wunder, es ist harte Arbeit.«
Daher ist es auch kein Wunder, dass nun, 18 Jahre nach dem Ende der Sowjet-union, die erste israelische Generation von Sportgymnastinnen mit olympischen Ambitionen antritt.
Im Alter von vier Jahren, als sie noch in der Ukraine lebte, hatten sowjetische Trainer Irina Risenzon als »zu pummelig« aus dem Kindertraining werfen wollen. Mit neun Jahren wanderte sie mit ihren Eltern nach Israel aus und blieb dort unter den Bedingungen eines freien Landes ihrem Sport treu. Mit 19 Jahren wurde sie Siebte bei den Weltmeisterschaften, und mit 20 Jahren ist sie jetzt zum ersten Mal bei den Olympischen Spielen dabei.