von Rabbiner Aviad Stollman
Die erste biblische Erwähnung der Heiligung der Erstgeborenen finden wir im Abschnitt dieser Woche: »Heilige mir alles Erstgeborene, die Lösung jedes Mutterschoßes bei den Kindern Jisrael, beim Menschen und beim Vieh, mein ist es« (2. Buch Moses, 13, 2). Später dann, in der Paraschat Mischpatim, erhalten wir eine deutlichere Anweisung: »Den Erstgeborenen deiner Söhne sollst du mir geben« (22, 28). Ohne diese Klärung könnte man der Auffassung sein, dass es keine Pflicht gebe, dem Herrn das Erstgeborene zu geben, sondern dass alles Erstgeborene schon von sich aus geheiligt sei und Gott automatisch gehöre, ohne dass dies auf menschliches Handeln zurückgeht.
Gott den Erstgeborenen zu geben, kann man so verstehen, wie Hanna es dem Priester Eli im Falle ihres Sohnes Samuel gelobte: »Bis der Knabe entwöhnt sein wird, dann bringe ich ihn hin, dass er vor dem Antlitz des Ewigen erscheine und dort bleibe für immer.« (1. Samuel 1, 22).
Diese beiden Verse in den Abschnitten Bo und Mischpatim verpflichten jeden Vater, Gott seinen Erstgeborenen zu geben. Es gibt jedoch zwei andere biblische Stellen, aus denen die Möglichkeit ersichtlich ist, den Sohn auszulösen.
Die zweite Quelle findet sich am Ende von Paraschat Kora. Die Schrift beschreibt hier das Verfahren für die Auslösung erstgeborener Söhne (4. Buch Moses, 18, 15-18). Ein Problem ergibt sich allerdings, wenn wir feststellen, dass diese beiden Stellen nicht nur die Möglichkeit zur Auslösung des Erstgeborenen einräumen, sondern den Ritus dieser Auslösung sogar verpflichtend vorschreiben. Damit stehen wir also vor zwei verschiedenen Pflichten: Wir haben Gott unseren erstgeborenen Sohn zu geben, und wir haben unseren Erstgeborenen von Gott auszulösen. Sind wir zu beidem gleichzeitig verpflichtet? Kann man dem Herrn nicht zunächst seinen Erstgeborenen geben, um ihn anschließend auszulösen?
Diese Frage beantwortet Maimonides in seinem Sefer HaMizwot: »Die Tora erläutert, wie diese Gabe zu erfolgen hat, dass wir ihn nämlich beim Priester auslösen müssen, als habe dieser ihn, den Erstgeborenen, bereits empfangen. So dass wir ihn vom Priester für fünf Sela-Münzen zurückkaufen.« Nach Maimonides’ Auffassung werden mit der Auslösung beide Akte vollzogen. Wir haben es hier also nicht nur mit der Auslösung, sondern zugleich mit der Gabe zu tun, »als habe er ihn bereits empfangen, so dass wir ihn zurückkaufen«. Damit wird erkennbar, dass eine eigene vorhergehende Gabe gar nicht erforderlich ist.
Die Geonim (Gelehrte der nachtalmudischen Zeit, 6. bis 11. Jh.) waren anderer Auffassung als Maimonides. Sie meinten, der Priester habe beim Ritus der Auslösung des Sohnes den Vater zu fragen: »Was willst du lieber, deinen erstgeborenen Sohn oder die fünf Sela, mit denen du ihn auslösen musst?« Der Vater antwortet dann: »Meinen erstgeborenen Sohn will ich, hier sind die fünf Sela, um ihn auszulösen.« Dieser Dialog gehört denn auch zur Zeremonie »Pidjon HaBen« am heutigen Tag. Sollen wir das nun so verstehen, als könnte der Vater den Neugeborenen auch beim Priester lassen, wenn er will? Für die Formulierung der Geonim ist eine Reihe von Erklärungen vorgebracht worden. In jedem Fall wird die halachische Option ausgeschlossen, den Erstgeborenen in den Händen des Priesters zu lassen.
Die früheste Autorität, die sich in dieser Richtung äußert, scheint Rabbi Israel Isserlein (Österreich, 15. Jh.) gewesen zu sein. In seinem Terumat HaDeschen antwortete er auf eine Anfrage in dieser Sache: »Was deine Frage angeht, ob jemand das Gebot erfüllt, wenn er seinen Erstgeborenen dem Priester gibt wie das Erstgeborene eines Esels – so ist dem nicht so.« Rabbi Isserleins Antwort wurde in »Remas« Glossen zum Schulchan Aruch aufgenommen (Yoreh De’ah, 305,9) und wurde von Rabbiner Abraham Zvi Hirsch Eisenstadt (Russland, 19. Jh.) in Pit’hei Teshuvah (Yoreh De’ah, 305,15) kommen-
tiert. Er führt dort die Erklärung von Rabbi Ya’ir Bachrach (Deutschland, 17. Jh.) zur Äußerung der Geonim an: »Das bedeutet nicht, dass er wählen kann, denn würde der Vater seinen Sohn beim Priester lassen wollen, hätte er damit nicht das Gebot erfüllt (…) vielmehr wird dies gesagt, um den Vater froh über die Auslösung seines Sohnes zu machen, damit er ihn auslösen will. Denn vielleicht zögert er, ihn um dieses viele Geld auszulösen.«
Anders gesagt, schrieben die Geonim diese Formulierung vor, um das Gebot der Auslösung des Sohnes für jene Väter abzumildern, die wegen des hohen Geldbetrages vielleicht zögerten. Daher bot Rabbi Bachrach einen psychologischen und soziologischen Kontext für die Formulierung der Geonim an.
Eine andere interessante Erklärung legte Rabbiner Shelomo Zalman Auerbach in seiner Responsa, Minhat Shelomo (Teil I, 62) vor. Auch seine Ausführungen basieren auf der Annahme, die Formulierung der Geonim sei für das einfache Volk gedacht gewesen. Nach seiner Auffassung handelte es sich nicht um ein Einschüchterungsmittel, wie Rabbi Bachrach meinte, sondern vielmehr um einen Weg, Missverständnisse beim Auslösungsverfahren zu vermeiden, weil solche Missverständnisse die rechtlich-halachische Wirkung des Ritus schwächen könnten: »Es könnte sein, dass jemand, der denkt, er müsse bei der Geburt seines ersten Sohnes fünf Sela an den Priester entrichten und keine Ahnung hat, dass er seinen Sohn damit auslöst, diesen Akt nicht vollzieht, und dann muss ihm der Priester sein Geld zurückgeben. Vielleicht haben die Geonim aus diesem Grund die Formulierung vorgeschrieben: ›Was willst du lieber ...’, so dass auch der einfache Mann begreift, dass es sich nicht um eine Spende, sondern um eine Auslösung handelt.«
Nach Auffassung von Rabbi Ovadiah Sforno waren die Erstgeborenen durch zwei Arten von Heiligung ausgezeichnet. Die eine Heiligung der Erstgeborenen hatte damit zu tun, dass sie für den Tempeldienst ausersehen waren. Diese Auszeichnung entfiel nach der Sünde mit dem Goldenen Kalb, als der Herr »die Leviten aus den Kindern Jisrael herausgenommen« hat (4. Buch Moses, 18, 6), die an der Sünde nicht beteiligt waren, und ihnen den Mischkan und später den Tempel anvertraute. Die andere Art von Heiligung, die ihnen gegeben wurde, sollte sie von der Pest befreien, die die Erstgeborenen traf. Hier handelte es sich um eine besonders erhabene und begrenzte Heiligung, da sie »wie die Naziräer und mehr noch als diese zum Dienst an Gott ausgesondert wurden«. Aber es war nicht dieselbe Heiligkeit, wie sie dem Stamm Levi gegeben wurde.
Die Erstgeborenen Israels besitzen noch heute diese zweite Heiligkeit und müssen deshalb ausgelöst werden. Damit verstehen wir, weshalb den Israeliten zur Zeit des Exodus ganz unabhängig von und lange vor der Sünde mit dem Goldenen Kalb geboten wurde, ihre Söhne auszulösen.
Schemot: 2. Buch Moses 1o,1 bis 13,16
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien, www.biu.ac