von Alfred Wagner
Hat Johannes Heesters 1941 in Dachau vor SS-Leuten »zur Ertüchtigung und zum Vergnügen« gesungen, wie der Berliner Kabaretthistoriker Volker Kühn in seinem Hörbuch Hitler und die Künstler – mit den Wölfen geheult notiert hat? Oder war der in seiner niederländischen Heimat noch immer von vielen als Nazi-Kollaborateur angesehene Operettensänger nur bei einer Art Tag der offenen Tür in dem KZ zu Besuch, wie sein Anwalt sagt? Heesters, der gerade 105 Jahre alt geworden ist, hat Kühn auf Unterlassung und Widerruf verklagt. Kommenden Dienstag wird das Berliner Landgericht sein Urteil in der Sache verkünden.
Unabhängig davon, wie das Verfahren ausgeht, ist eines unstrittig: Heesters, der 1943 von Goebbels auf die »Gottbegnadetenliste« der wichtigsten Künstler des Dritten Reichs gesetzt wurde, war ein Profiteur der NS-Herrschaft. Dank des Nazismus’ machte er eine steile Karriere, die auch nach 1945 weiterging – bis heute. Und Heesters war nicht der Einzige.
Frühjahr 1933: SA-Leute ziehen randalierend durch die Straßen, wer »jüdisch« aussieht, wird angepöbelt, angespuckt, geschlagen, Schaufenster gehen zu Bruch, beschmierte Häuserwände verkünden »Juda verrecke!« Tausende von Künstlern bekommen Auftrittsverbot. Wer kann, rettet sich ins benachbarte Ausland. Die Liste der Musiker, Texter, Sänger und Schauspieler, die – eben noch als Publikumslieblinge umschwärmt, vergöttert und verehrt – ihre Heimat verlassen mussten, ist lang und liest sich wie ein »Who’s who« der deutschen Unterhaltungsbranche. Komponisten wie Friedrich Hollaender, Mischa Spoliansky, Rudolf Nelson und Werner Richard Heymann und populäre Interpreten wie Fritzi Massary, Gitta Alpar, Camilla Spira, Curt Bois, Willy Rosen, Paul Morgan, Kurt Gerron, Max Pallenberg, Otto Wallburg, Paul O’Montis, Siegfried Arno, Paul Graetz und Fritz Grünbaum. Viele von ihnen, die es nur bis Österreich, Frankreich oder in die Niederlande geschafft hatten, werden später von den Nazis gejagt, verhaftet und in den Konzentrationslagern ermordet.
Für die Verjagten fand sich rasch Ersatz. Zumeist waren es Künstler der zweiten Garnitur, die jetzt ihre Chance witterten und sie wahrnahmen. Als Filmkomponisten waren nun Peter Kreuder, Franz Grothe, Theo Mackeben und Michael Jary im Geschäft. Für die nach Hollywood emigrierte Marlene Dietrich wurde Zarah Leander als Ufa-Star aufgebaut, auf den Kinoplakaten standen bald neue Namen: Marika Rökk, Ilse Werner, Rosita Serrano. Auch für den aus Holland zugewanderten Charme-Import Johannes Heesters gab es ideale Startbedingungen für eine beispiellose Film- und Bühnenkarriere, nachdem seine »nichtarischen« Kollegen, die Tenöre Richard Tauber, Max Hansen, Jan Kiepura und Joseph Schmidt, aus Deutschland vertrieben worden waren.
Die Show, von der es heißt, sie müsse weitergehen, ging weiter. Die Unterhaltungsindustrie produzierte unter den neuen Bedingungen höchst effektiv und lieferte im Sinne ihres Auftraggebers Joseph Goebbels unpolitische Unterhaltung, die eine wichtige, eminent politische Funktion zu erfüllen hatte: den Schlager als Ablenkung, das gefühlige Kinorührstück als Illusion, die – zumal in Krisenzeiten – die graue Wirklichkeit verschönte oder ganz vergessen machte. Marika Rökk brachte im August 1944, als Deutschland längst eine Trümmerwüste und der Holocaust in vollem Gange war, die Botschaft mit ihrem Kinoschlager auf den Punkt: »Schau nicht hin, schau nicht her, schau nur geradeaus, und was dann auch kommt – mach dir nichts daraus.« Millionen Deutsche befolgten ihren Rat und gaben sich nur allzu gern einen Spielfilm lang der Illusion hin, es werde trotz Mord, Terror und Verderben doch einmal ein Wunder geschehen.
Das Wunder blieb aus. Deutschland musste kapitulieren. Die Naziführer brachten sich um oder wurden vor Gericht gestellt. Ihre Künstler aber, die im Wunschkonzert des Großdeutschen Rundfunks für die Wehrmacht geträllert hatten, waren nach Kriegsende alle wieder da. Die Show ging weiter. Und mit ihr all die Karrieren, die im Zeichen des Hakenkreuzes begonnen hatten. All die Komödianten, Schlagersänger und Stimmungskanonen, die an der Fassade des schönen Scheins mitgebaut hatten, hinter der sich die Barbarei umso hemmungsloser hatte austoben können, waren sich keiner Schuld bewusst. Sie hatten ja nur getanzt, gesungen und gespielt. Sie verstanden sich als unpolitische Frohnaturen, die ihrem Publikum mit ein paar heiteren Stunden über eine schwere Zeit hinweggeholfen hatten, selbst wenn sie sich, wie Gustav Fröhlich und Heinz Rühmann, der Karriere wegen von ihren jüdischen Ehefrauen getrennt hatten.
Kein Wort des Bedauerns ist je über die Lippen dieser bis heute populären Stars gekommen, kein Anflug von schlechtem Gewissen, Reue oder Scham. In ihren Memoiren wird die Erinnerung an eine gute alte Zeit beschworen, wird beschwichtigt und beschönigt, wird unter den Teppich gekehrt, bagatellisiert und sich dumm gestellt. Allenfalls der Erfolgskomponist Michael Jary, der zur NS-Zeit mit Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern und Davon geht die Welt nicht unter Filmlieblingen wie Heinz Rühmann und Zarah Leander die großen Durchhalteschlager auf den Leib geschrieben hatte, räumte Jahrzehnte später nachdenklich ein, der Exodus jüdischer Musiker sei für ihn und seinesgleichen nicht von Nachteil gewesen: »Ohne ihn hätten wir kaum eine Chance gehabt.« Johannes Heesters scheint über seine Karriere nicht einmal dieses Maß an Reflexion aufzubringen. Noch vorige Woche sagte er im niederländischen Fernsehen über Adolf Hitler: »Für mich war er nett.«