von Clemens Hoffmann
Hupend und stinkend schiebt sich der Feierabendverkehr über die Kiewer Shota-Rustaveli-Straße im Herzen der Stadt. Dunk- le Edellimousinen Stoßstange an Stoßstange mit rostigen Trolley-Bussen und Lieferwagen. Plötzlich schießt ein silberner BMW auf den Vorplatz der Haupt-Synagoge. Ein paar Schüler mit Schläfenlocken, die vor dem Hauptportal des gelben Klinkerbaus warten, springen zur Seite. Andreij schwingt sich aus dem Sitz. »Hier gibt es ja nirgends Parkplätze«, entschuldigt er sich grinsend. Andreij will in den koscheren Lebensmittelladen neben der Synagoge.
Wie Andreji haben am vergangenen Sonntag rund 30 Millionen Ukrainer ein neues Parlament gewählt. Doch wer die neue Regierung bilden wird, ist noch völlig unklar. Der amtierende Ministerpräsident Janukowitsch von der Partei der Regionen, dessen Bündnis die meisten Stimmen bekam? Oder Julia Timoschenko, die gemeinsam mit dem orangenen Lager von Präsident Juschtschenko im neuen Parlament eine Mehrheit von drei Sitzen hat? In Kiew sind die Menschen schon wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt. Für eine neue Revolution auf dem »Platz der Unabhängigkeit« hat niemand Zeit.
Der 32-jährige Andreij, der mit Gewerbeimmobilien handelt und sich selbst als »aufgeschlossenen Orthodoxen« bezeichnet, trägt die dunkle Burberry-Sonnenbrille lässig im Haar. Die riesigen Gläser verdecken fast seine Kippa. Natürlich sei er wählen gewesen, sagt er: »Julia Timoschenko. Sie ist die einzige, die unser Land wirklich auf einen demokratischen Weg bringen will«, ist Andreij überzeugt. Nicht, dass er ein großer Fan von »Julia« wäre. »Aber sie ist hungrig, hat Biss. Das gefällt mir!«
Stabilität und Rechtstaatlichkeit wünscht sich Andreij für sein Land. Das sei auch die beste Vorausstezung für ein weiteres Aufblühen des jüdischen Lebens. »Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen. Ich will keine russischen Verhältnisse, sondern eine offene und demokratische Ukraine, sagt er. »Dafür haben wir 2004 auf dem Maidan gestanden. Seitdem ist leider nicht viel passiert«, beklagt er. Die Politiker seien viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Trotzdem will er in der Ukraine bleiben, auch wenn dem Land noch zehn bis 15 schwierige Jahre bevorstünden. »Als Jude kann ich hier ohne Angst leben. Das ist viel wert«, sagt Andreij.
Matthew, 21 Jahre alt, hat nicht gewählt, wie schon im letzten Jahr. Der blasse Junge mit dem Pferdeschwanz unterm Basecap winkt ab: »Ich bin für Demokratie. Doch ich weiß nicht, wo ich mein Kreuz machen soll.« Dass sich jetzt wieder beide Lager gegenseitig des Wahlbetrugs bezichtigen, bestärkt ihn in seiner Ansicht.
Matthew studiert Englisch und Italienisch. Zwar interessiert ihn Politik, doch die ukrainische Variante widert ihn an: Für seine Kommillitonen, die sich im Wahlkampf auf Bestellung als bezahlte Demonstranten bei den ukrainischen Parteien verdingen, hat er nur Verachtung übrig. Matthew verdient sein Geld lieber mit Musik: Er arbeitet als Schlagzeuger in mehreren Bands. Ihn regt auf, dass Russland sich immer wieder in die Politik des Nachbarlandes einzumischen versucht, jetzt wieder mit der Erhöhung der Gaspreise droht, sollte das orangene Lager die neue Regierung stellen. Trotz aller Schwierigkeiten: Die Ukraine sieht auch Matthew auf dem Weg nach Europa. »Unsere Zukunft liegt im Westen.«
100.000 Juden leben heute nach offizieller Statistik auf dem Territorium der Ukraine, auf sogar 215.000 schätzt das American Jewish Committee die Zahl. Wo die ukrainischen Juden politisch stehen, ist nicht eindeutig zu sagen. »Es gibt Anhänger aller politischen Lager, und die großen Parteien stehen der jüdischen Gemeinde in der Ukraine aufgeschlossen gegen- über«, sagt Arkadi Monastirsky, Geschäftsführer der Jewish Foundation of Ukraine, einer überparteilichen Wohltätigkeitsorganisation mit Sitz in Kiew. Deren Präsident, der Charkower Geschäftsmann Aleksander Feldman, ist Parlamentsabgeordneter des Blocks Julia Timoschenko. Wird sie nächste Ministerpräsidentin, könnte Feldman den Vorsitz des Rates für nationale Minderheiten übernehmen.
JFU-Generalsekretär Monastirksy betont, man pflege zu allen Parteien gute Beziehungen. Wie viele Ukrainer sieht auch er die knappen Mehrheitsverhältnisse im neuen Parlament mit Sorge: Beide Lager liegen fast gleichauf. Für viele dringenden Reformen ist aber eine Zweidrittelmehrheit nötig. Die Ukraine brauche eine stabile Regierung, die das Land voranbringt. »Ohne Kompromisse wird es nicht gehen. Die sind nicht unbedingt eine Stärke unserer Politiker. Aber ich bleibe Optimist«, meint Monastirsky mit einem vielsagenden Lächeln.