von Rabbiner Baruch Rabinowitz
Vorzeitige Freilassung auf dem Gnadenwege für einen Terroristen? Der Bundespräsident steht vor einer schweren Entscheidung. Soll er den wegen mehrfachen Mordes rechtskräftig verurteilten und seit 1982 inhaftierten Christian Klar begnadigen? Damit würde Klar zwei Jahre vor seinem gesetzlichen Rechtsanspruch auf Freilassung seine Haftzelle verlassen können. Keine Gnade für Terroristen ohne Reue, fordern die einen. Andere glauben, dem Strafinteresse des Staates sei Genüge getan.
Eine chassidische Geschichte handelt von einem jungen Soldaten, der seine Armee verraten hat. Der Mann wurde festgenommen und zum Tode verurteilt. Wenige Tage vor der Hinrichtung fleht seine Mutter den König um Begnadigung an. »Er wurde gerecht verurteilt«, sagte der König. Die Mutter erwiderte: »Ich bete um Gnade, nicht um Gerechtigkeit«. Der König antwortete: »Er verdient keine Gnade.« Die Mutter antwortete: »Gnade verdient man nicht. Gnade ist ein Geschenk.«
Das Judentum versucht zwei Maximen zu genügen. Die schriftliche Tora ist der Staatsanwalt, die mündliche Tora der Verteidiger. So wird nach dem jüdischen Gesetz eine Todesstrafe für denjenigen verlangt, der einen anderen absichtlich ge-
tötet hat. Praktisch wurden Todesurteile äußerst selten durchgeführt. Nur der Große Sanhedrin, der aus 70 Weisen bestand, hatte das Recht Todesurteile vollstrecken zu lassen. In den meisten Fällen entschied sich das Gericht dafür, einen Verbrecher in ein lebenslanges Exil zu schicken. »Verurteilen nach dem Gesetz, bestrafen nach der Barmherzigkeit«, schrieb HaRosch in seinem Kommentar zum Traktat Sanhedrin.
Die Gnade ist deswegen eine der größten Tugenden des Judentums. Gott ist barmherzig und gnädig. Im Talmud wird sogar das Wort »Rachmana« – »Gnade« – als Synonym für »Gott« verwendet. Deswegen ist die wichtigste Aufgabe eines Gerichtes auch die Suche nach Gründen, die nicht zu einer Verurteilung, sondern zum Freispruch führen. »Zu verbieten ist einfacher als zu erlauben. Zu verurteilen ist einfacher als zu begnadigen« sagt der Schulchan Aruch.
Die Gnade im Judentum widerspricht einem gerechten Urteil jedoch nicht. Ehrliche Reue, begleitet vom Wunsch sich zu ändern und das begangene Verbrechen wiedergutzumachen ist der Schlüssel für die Gnade.
Das Judentum erkennt allerdings auch an, dass Verbrechen faktisch nicht wiedergutgemacht werden können. Auch der kleinste Schmerz, der einem bereitet wurde, hinterlässt lebenslang Narben. Nicht die Bestrafung des Bösen, sondern die Wiederherstellung des Guten verändert die Welt und heilt die Menschen.
Der Weg dazu im Judentum ist die Teschuwa. Sie ist die Rückkehr an den Ort, an dem »etwas falsch« gelaufen ist. Dort bekommt man die Chance, den richtigen Weg einzuschlagen. Nicht die Strafe ermöglicht die neue Chance, sondern die Gnade, die gewährt wird.
Der Talmud berichtet von einem römischen Soldaten, der zum Judentum übertreten wollte. Ihn belastete die Beteiligung an der Unterdrückung der Menschen und die Tötung von drei Kindern. Der Rabbiner sah seine Verzweiflung und sagte: »Bereue deine Sünde. Du hast drei Kinder umgebracht. Jede Stunde sterben Hunderte von Kindern. Geh’ hin und rette sie.«