von Sophie Neuberg
»Niemand ist ein Mörder, bis er jemanden umbringt.« Dieser Satz, den er einmal in der Krimiserie Tatort gehört hat, könne seinen Vortrag treffend zusammenfassen, sagt Harald Welzer, Sozialpsychologe und Leiter des Center for Interdisciplinary Memory Research in Essen. Welzer sprach anlässlich der internationalen Konferenz »Täterforschung im globalen Kontext« in Berlin. Wissenschaftlicher ausgedrückt formuliert Welzer sein Anliegen so: »Nicht die Person bestimmt die Handlung, sondern die Handlung die Person.« Für Welzer geht es darum, von der Suche nach einer Täterpersönlichkeit wegzukommen und stärker nach den Umständen zu schauen, er nennt das »Referenzrahmen«. Zu diesem Rahmen gehören, oft unbewusste, Prägungen, Annahmen und Überzeugungen, sowie Bedingungen, Wahrnehmungen, Anforderungen und soziale Verbindlichkeiten, Kompetenzen und vieles mehr. Mit dem Ergebnis, dass der Mensch sich nicht im luftleeren Raum nach der Moral seines Handelns fragt sondern: »Was wird von mir erwartet oder verlangt? Kann ich das?«
Auf NS-Täter übertragen bedeutet dies, dass es eine schrittweise Veränderung der äußeren Bedingungen gab – mit dem Ergebnis, dass Taten, die man heute oft als »unvorstellbar« bezeichnet, sehr wohl vorstellbar und möglich wurden. Nicht von heute auf morgen, sondern nach und nach, durch zahlreiche aufeinander aufbauende Überschreitungen moralischer Regeln. 1933 wären Deportationen nicht möglich gewesen, erklärte Harald Welzer, 1942 hingegen waren sie möglich – eben aus dem veränderten Referenzrahmen heraus: Die Einstellungen der Menschen hatten sich langsam verändert, sie realisierten das aber nicht.
Täterforschung ist ein relativ junges Gebiet der Geschichts- und Sozialwissenschaften. Zur zweiten von der Bundeszentrale für politische Bildung organisierten internationalen Konferenz »Täterforschung im globalen Kontext« trafen sich in der vergangenen Woche in Berlin nicht nur Historiker und Soziologen, sondern auch Anthropologen und Psychologen, die sich jeweils aus ihrem eigenen Blickwinkel mit sehr heiklen Fragen befassen wie: »Warum wird ein Täter zum Täter?«, »Gibt es Täterprofile?«, »Gibt es Tätermilieus?«
Sind denn Täter überall gleich und ist es sinnvoll, einen Täter des Pol-Pot-Regimes in Kambodscha mit einem Täter in Nazideutschland zu vergleichen? Die Forscher waren sich einig, dass die Suche nach einer »Täterpersönlichkeit« nicht sehr weit führt und nie ausreichen kann, um das Begehen von Gräueltaten zu erklären. So hat die amerikanische Historikerin Wendy Lower von der Towson University die Mittäterschaft der ukrainischen Bevölkerung im Dritten Reich untersucht und kommt zum Ergebnis, dass Täter in der ganzen Bevölkerung verteilt waren, unabhängig von Alter, sozialer Schicht, Bildung und politischer Einstellung.
Trotzdem erscheint es nicht sinnlos, Vergleiche anzustellen. Zum Beispiel ergeben sich in späteren Befragungen sehr ähnliche Erklärungs- und Verdrängungsmuster bei allen Tätern, egal ob in Deutschland, Kambodscha oder Jugoslawien: »Wir haben es nicht gewusst«, »Man konnte nicht anders« et cetera.
Viel wichtiger sei es aber, so mehrere Forscher, die Situation der jeweiligen Länder und das kulturelle Umfeld zu vergleichen. Für den Anthropologen Alex Hinton von der Rutgers University of New Jersey, der die Roten Khmer in Kambodscha untersucht hat, ist es ganz klar, dass ein Genozid nur in seinem jeweiligen kulturellen Kontext zu verstehen ist. Hinton hat zwei beliebte Erklärungsmuster herausgefunden: Man spreche von den Tätern als »Bestien« (Typus der wild gewordenen, gestrandeten Kinder in William Goldings Roman Herr der Fliegen) oder als »Wahnsinnige« (Typus Norman Bates in Alfred Hitchcocks Film Psycho). So könne man sich auch leichter von ihnen abgrenzen. Als er jedoch mit Tätern aus Kambodscha sprach, traf er manchmal auf sehr Jugendliche, beinah Kinder – und schon wird die Einteilung zwischen Opfern und Tätern und das Abstempeln als »Bestie« schwieriger. Das alles solle auf keinen Fall dazu führen, die Taten zu relativieren, das betonten mehrere Forscher. Täter seien immer aktiv gewesen und hätten Eigeninitiative entwickelt. In vielen Fällen sei es möglich gewesen, sich dem Morden zu entziehen.
Hier gelangt man an die Stelle, wo unsere Gesellschaft Ansatzpunkte für Prävention suchen kann. »Was wir brauchen, sind neue Ansätze, um Menschen zu befähigen, sich selbst und andere wertzuschätzen«, betonte Innenminister Wolfgang Schäuble bei der Eröffnung der Konferenz. Für die anwesenden Forscher geht es in erster Linie um eine lebendige Öffentlichkeit, die sich totalitären Tendenzen entgegenstellt. »Feindbilder sind eine gefährliche Sache«, betonten zum Beispiel übereinstimmend die Historikerinnen Elizabeth Harvey aus Nottingham und Birthe Kundrus aus Hamburg, und auch da könne man Parallelen sehen: So habe man im Kambodscha der Roten Khmer die Akademiker zum Feind erklärt, in Nazideutschland die Juden. »So banal es zunächst klingen mag«, unterstrich Birthe Kundrus, »gibt es eine große Verantwortung der Politik und der Medien, Zivilcourage zu fordern«. Und Zivilcourage sei weder einfach noch banal, denn sie erfordere, über sich selbst zu reflektieren, um sagen zu können: »Ich mache nicht mit.«