von Rabbiner Joel Berger
An diesem Schabbat beginnt man in den Synagogen die Lesung des fünften Buches der Tora, Dewarim, nach dem hebräischen Anfangswort des ersten Kapitels. Wir lesen die Abschiedsreden Mosches vor seinem Tod, in denen er das Volk stärken und nach der langen Wanderung in der Wüste auf die Landnahme vorbereiten will.
Ferner hält Mosche, am Ende seiner Laufbahn angelangt – er hatte bereits vom Herrn erfahren, dass er nicht mit den Vorfahren das Land der Verheißung betreten dürfe – Rückschau auf frühere Ereignisse. Er wertet diese im Rückblick und erinnert sein Volk an das Negative, Verwerfliche seines Verhaltens, das letztendlich die Wanderung in der Wüste – jene harten 40 Jahre – mit sich brachte. Diese Züchtigungen und Tadel seitens Mosches wirken häufig bis in die neueste Zeit in den Predigten und Schrifterklärungen mancher Rabbiner nach, die ebenfalls das Fehlverhalten ihrer Schäfchen auf menschlicher und religiöser Ebene hart kritisierten.
In der Welt des Chassidismus dagegen verwarf man diese harten Vorwürfe gegenüber dem Fehlverhalten der Gemeinschaft. Man wies darauf hin, dass der von der Kanzel aus beschämte und gedemütigte Mensch sich deshalb noch lange nicht ändern wird und zur Umkehr bereit ist. Diese Auffassung der Meister des Chassidismus ist in vielen Lehrbeispielen und Epi-
soden überliefert worden. Rabbiner Levi Jitzchak aus Berditschew galt in früheren Zeiten als aufrechter Verteidiger der armen jüdischen Handwerker und Landwirte. Eines Tages, nach einer Lehrveranstaltung in seiner Synagoge, ergriff ein Mag-
gid, ein Wanderprediger, das Wort und hielt eine harte Moralpredigt, in der er die vermeintlichen Sünden seiner Zuhörer aufzählte und danach noch härte Strafen G’ttes androhte. In einer kurzen Pause nach jenen harten Worten des Predigers hob der Berditschewer Rabbiner seine Augen gen Himmel und sagte mit lauter Stimme: »Ribbono schel Olam! Herr der Welt! Höre nicht auf ihn! Das Elend und die Not sprechen aus ihm. Wer weiß, in welcher Armut sich seine Familie irgendwo befindet? Er ist bestimmt auf die paar Groschen angewiesen, die man hier für seine geschliffenen, mit den kundigen, treffenden Zitaten vorgetragenen Worte zu spenden bereit ist!
Herr, G’tt! Schenke ihm in Deiner grenzenlosen Weisheit wenigstens ein paar hundert Gulden, und er wird bestimmt nie wieder Schlechtes und Nachteiliges über Deine Kinder sprechen.« Zu dem Prediger und zur Gemeinde gewandt, fügte er noch hinzu: »Bedenket doch, dass Mosche, unser Lehrer, als er zu seinem Volk sprach, sich manchmal einige Ausdrücke des Tadelns erlaubte.« Jedoch als der Herr, G’tt, ihn sich vornahm, um die Aufmüpfigkeit der Israeliten zu verurteilen, da hat Mosche sein sündiges Volk stets verteidigt und war äußerst bemüht, ihre schweren Fehler zurechtzurücken. Der Dialog zwischen Mosche und seinem »Obersten Dienstherrn«, in dem der Herr die Israeliten strafen, Mosche dagegen g’ttlich belohnen wollte, bleibt in Erinnerung. Mosche entgegnete dem Herrn: Wenn es so kommen sollte, »lösche mich auch aus Deinem Buch des Lebens!«
Zu den mannigfaltigen Grundsätzen der Tora, die Mosche vor seinem Tode wiederholte, gehört vordergründig die Gerechtigkeit. So lernen wir in diesem Wochenabschnitt: »Ihr sollt kein Ansehen kennen im Gericht, den Geringen sollt ihr wie den Mächtigen anhören: Fürchtet euch vor niemandem, denn das Gericht ist G’ttes!« (5. Buch Moses 1,17). Die Rechtsprechung der Israeliten ruht auf dem Grundsatz: Gleichheit der Parteien vor Gericht und der Ablehnung jeglicher Übervorteilung im Streitfall. Hier darf niemand eine Ausnahme bilden, nicht einmal der Herr selbst!
Das Streben nach Gerechtigkeit seitens der Richter beinhaltet folgende Maßgabe: »Ihr sollt kein Ansehen erkennen im Gericht; wie den Kleinen so den Großen sollt ihr hören. Fürchtet euch vor niemand, denn das Gericht ist des Ewigen« (1,17).
Diese Forderung, alle Parteien gleich zu behandeln, erscheint insgesamt an vier verschiedenen Stellen der Tora, die sich allesamt mit der Rechtsprechung befassen: »Beuge nicht das Recht des Armen deines Volkes in seiner Streitsache« (2. Buch Moses 23,6). »Begünstige nicht den Armen in seinem Rechtsstreit« (2. Buch Moses 23,3). Dass man die Vornehmen und Mächtigen im Rechtsstreit nicht bevorzugen dürfe, hält die Tora für gar nicht erwähnenswert, da es von der inneren Logik der Zusammenhänge wie auch von dem Rechtsempfinden der Israeliten her als selbstverständlich erschien. Ferner lernen wir: »Ihr sollt keine Ungerechtigkeit tun im Gericht [...] mit Gerechtigkeit sollst du deinen Nächsten richten« (3. Buch Moses 19,15). Und schließlich: »Du sollst das Recht nicht beugen und sollst kein Ansehen erkennen« (5. Buch Moses 16,19).
Die Toragelehrten weisen darauf hin, dass der Ausdruck »Arme« sich nicht nur auf die Mittellosigkeit bei irdischen Gütern bezieht. In einem Midrasch lernen wir: Wenn eine anstößige und eine achtbare Person vor dir im Gericht stehen, sage nicht: »Da er eine verrufene Person ist, werde ich seinen Fall nicht günstig betrachten, sondern: ›Beuge nicht das Recht deines Armen in seiner Rechtssache.‹« Denn er ist arm an guten Taten, an Mizwot (Midrasch Mechilta 2. Buch Moses 23,6).
Dieser Schabbat wird nach der Haftara, der prophetischen Lektüre, »Schabbat Chason« genannt. Mit dem Wort »Chason Jeschajahu«, der Vision Jesajas, beginnt das Buch dieses Propheten. Diese Vision wird alljährlich vor dem größten Trauertag unserer biblischen Geschichte, vor dem neunten des Monats Aw, vorgetragen. Dieser Tag gilt als Gedenktag an die Zerstörung des ersten Salomonischen Tempels wie auch des Staates durch die Babylonier. Siebeneinhalb Jahrhunderte später am gleichen Tag wurde der zweite Herodianische Tempel von den römischen Kaisern Vespasian und Titus und ihren Legionen zerstört. Die nachfolgende Vertreibung unseres Volkes aus ihrem Land bewirkte, dass die meisten von uns bis heute in der Diaspora, in der Zerstreuung außerhalb des Heiligen Landes leben.
Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.