von Nathan Aviezer
Das dramatischste Ereignis im unseren Abschnitt Beschalach ist wohl zweifellos die Teilung des Roten Meeres, eines der beeindruckendsten Wunder in der ganzen Tora. Die Israeliten saßen zwischen dem Meer und dem heranrückenden ägyptischen Heer fest, und die Lage schien aussichtslos. Da teilte der Gott das Meer, und die Israeliten durchquerten es trockenen Fußes, das ganze nachsetzende ägyptische Heer versank in den Fluten: »Und die Wasser fluteten zurück und deckten die Wagen und die Reiter der ganzen Heeresmacht Pharaos, die hinter ihnen her in das Meer gekommen waren. Auch nicht einer von ihnen blieb übrig.« (2. Buch Moses, 14, 28)
Erstaunlicherweise ereignete sich die Sünde mit dem Goldenen Kalb nur wenige Wochen nach der Teilung des Roten Meeres. Die Israeliten, das selbe Volk, das Zeuge der Teilung des Meeres geworden war, beging nun die Sünde mit dem Goldenen Kalb. Die Tora betont, dass sich das gesamte Volk an dieser Sünde beteiligte: »Als aber das Volk sah, dass Mosche säumte, vom Berg herabzukommen, da scharte sich das Volk um Aaron, und sie sprachen zu ihm: Auf, mache uns Götter ... Da nahmen sie sich, das ganze Volk, die goldenen Ringe ab, die in ihren Ohren waren, und brachten sie zu Aaron ... Und sie sprachen: Dies sind deine Götter, Jisrael«. (32, 1-4)
Wie konnten dieselben Menschen, die erlebt hatten, wie Gott sie rettete, nun zum Götzendienst abfallen? Zur Teilung des Roten Meeres heißt es in der Mekhilta: »Mägde sahen am Meer, was nicht einmal Jesaja und Ezechiel zu sehen bekamen.« (Mekhilta de-Rabbi Ishmael, Traktat de-Schirah Kap. 3). Trotz der Offenbarung vor jedermanns Augen hielt die Wirkung dieses Wunders nur ein paar Wochen an.
Weshalb war Gott derart zornig über die Sünde mit dem Goldenen Kalb? Nach dieser Sünde erklärte Er, das ganze Volk Israel auslöschen zu wollen: »So lass mich denn, dass ... ich sie vernichte.« (32, 10). Die Israeliten entgingen der Vernichtung nur durch Moses’ inständiges Flehen: »Und nun, wenn du doch ihre Sünde verzeihen wolltest! Wenn aber nicht, so lösche mich doch aus deinem Buch, das du geschrieben!” (32, 32)
Gott erhört Moses’ Bitte, aber auf eine Bestrafung der begangenen Sünde verzichtet er nicht. Die Strafe der Vernichtung wurde lediglich durch eine Strafandrohung ersetzt, die bis zu ihrer nächsten Sünde über ihnen schweben sollte: »Aber am Tag, da ich bedenke, werde ich an ihnen ihre Sünden bedenken« (32, 34).
Die nächste Sünde ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Nur wenige Monate später taten es die Israeliten erneut, diesmal in der Episode mit den Spionen. Eine Sünde zieht die nächste nach sich. Die Sünde mit dem Goldenen Kalb wurde durch diese neue Sünde noch verschlimmert, und das Schicksal der Israeliten jener Generation war damit besiegelt.
Um zu verstehen, warum Gott für die Sünde mit dem Goldenen Kalb so eine harte Strafe forderte, müssen wir sie mit einer anderen Sünde des Götzendienstes vergleichen, die im 4. Buch Moses beschrieben wird: »Während nun Jisrael in Schittim weilte, fing das Volk an, mit den Töchtern Moabs zu buhlen. Und sie luden das Volk zu den Schlachtmahlen ihrer Götter, und das Volk Jisrael aß mit und warf sich vor ihren Göttern nieder. Und Jisrael schloss sich dem Baal-Peor an.« (25, 1-2).
Hier handelte es sich nicht nur um Götzendienst, sondern auch um verbotene sexuelle Beziehungen und den Verzehr verbotener Speisen. Dennoch findet sich in der Tora nicht der mindeste Hinweis auf eine Absicht des Herrn, das Volk der Israeliten deshalb zu vernichten. Warum war die Sünde mit dem Goldenen Kalb in den Augen Gottes um so viel schlimmer als die Götzenanbetung der Israeliten in Verbindung mit ihren Beziehungen zu den Moabiterinnen?
Der Schlüssel liegt im Zeitpunkt der Sünde mit dem Goldenen Kalb. Dieser Vorfall ereignete sich unmittelbar nach der Teilung des Roten Meeres, kurz nachdem die Israeliten Zeugen der Wunder der Zehn Plagen geworden waren, und kurz nach der Offenbarung am Berg Sinai, wo ihnen die Tora gegeben worden war. Wenn die Israeliten nach allen diesen wunderbaren Taten Gottes noch immer so anfällig für das Goldene Kalb waren (nur weil sie Moses einen einzigen Tag früher zurück erwarteten), dann verdienten sie gewiss nicht, das Land Israel zu betreten.
Im Bericht über die Teilung des Roten Meeres und in der Episode mit dem Goldenen Kalb enthüllt die Tora eine äußerst wichtige Botschaft: Die verbreitete Auffassung, Wunder stärkten den Glauben, ist von Grund auf falsch. Der Weg zum wahren Glauben führt nicht über Wunder, so beeindruckend diese auch sein mögen. Der Weg zum wahren Glauben ist der lange, mühsame Weg der Hingabe Tag für Tag und des täglichen Studiums der Tora, der Einhaltung ihrer Gebote, des tiefen Nachdenkens und des Lebens in einer Gemeinschaft mit anderen, die den gleichen Glauben teilen. Es gibt keine Abkürzung zum Glauben. Die Lage des Volkes, das »auf den Herrn und seinen Knecht Moses vertraut«, ist nicht dauerhaft. Diese Einsicht wird durch eine interessante Geschichte verdeutlicht. In den 20er und 30er Jahren lehrte an der Universität Harvard ein Professor mit Namen George Kitredge, ein international anerkannter Experte für Shakespeare und seine Zeit. Jahrzehntelang war Professor Kitredge in Forschung und Lehre herausragend und in der ganzen akademischen Welt für seine faszinierenden Vorlesungen berühmt. Eines Tages beschloss der Präsident der Universität, einen Sachverständigen die Frage untersuchen zu lassen, wie viel von ihrer Zeit die Lehrkräfte eigentlich jeweils für die Forschung, den Unterricht und Verwaltungsarbeiten verwendeten. Als Kitredge gefragt wurde, wie viel Zeit er zur Vorbereitung einer Einzelvorlesung benötige, antwortete er: »Ein ganzes Leben.« Jede einzelne Vorlesung, die er hielt, war Frucht jahrelangen tiefen Nachsinnens und umfangreicher Studien, und das machte seine Vorlesungen auch so brillant.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem vollständigen Glauben an Gott: Auch hier ist lebenslange Hingabe erforderlich. Wahrer Glaube wird durch lange Jahre des Erwägens, des Tora-Studiums und der Arbeit an sich selbst erreicht. Er ist nicht Ergebnis einer momentanen Erhebung durch dieses oder jenes Wunder, ganz gleich wie beeindruckend ein solches Wunder auch sein mag. Diese Art Inbrunst erlischt ebenso rasch, wie sie aufflammt. So sagt Maimonides: »Diejenigen, die wegen Wundern glauben, haben nicht die Wahrheit im Herzen.« (Hilkhot Yesodei ha-Torah, Kap. 8).
Das Wunder der Teilung des Roten Meeres zusammen mit allen anderen Wundern jener Zeit konnte die Israeliten nicht vor der schlimmsten Sünde bewahren, die dazu führte, dass die gesamte erwachsene Bevölkerung in der Wüste zugrunde ging. Und selbst nach Jahren des Glaubens kann es zu Versagen kommen, wie die Sünde der Anbetung des Baal-Peor zeigt. Und doch wurde diese Generation vom Herrn für wert befunden, das Land Israel zu betreten und dort die religiöse Tradition der Tora zu begründen, die bis heute nicht abgerissen ist.
Beschalach: 2. Buch Moses 13,17 bis 17,16
Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien, Universität Bar Ilan: www.biu.ac.il