von Ingo Way
Hani al-Mahdi hörte die Alarmsirene um 9.30 Uhr am Morgen, aber er konnte sich nicht mehr rechtzeitig in Sicherheit bringen. Der 27-jährige Bauarbeiter wurde von einer palästinensischen Grad-Rakete ge-
troffen, als er sich gerade bei der Arbeit auf einer Baustelle im israelischen Aschkelon befand. Er ist einer der vier israelischen Toten, die das Raketenfeuer der Ha-
mas seit dem Beginn der israelischen
Gasa-Offensive forderte.
Und Hani al-Mahdi ist Araber, Beduine. Er stammt aus Aroar, einem Beduinendorf in der Negevwüste, wo er mit seinen El-
tern und 14 Geschwistern lebte. Er nahm Gelegenheitsjobs an, wo er konnte, um seiner Familie finanziell unter die Arme zu greifen. Trotz der Raketengefahr, von der er wusste, brach er am Montag vergangener Woche zur Arbeit nach Aschkelon auf.
Die Hamas zeigte auf ihrer Website kein Bedauern über die Ermordung ihres moslemischen Glaubensbruders. Im Ge-
genteil. Da er in Israel lebte, war al-Mahdi für sie ein Verräter, ein Zionist, der es verdiente, getötet zu werden. Ironischerweise waren unter den vier seit dem 27. Dezember von Hamasraketen getöteten Israelis zwei Araber – neben al-Mahdi noch ein drusischer IDF-Soldat. In dem Gebiet, das von den Kassam- und Grad-Raketen der Hamas erreicht wird, leben überdurchschnittlich viele Beduinen. Auch die beduinische »Hauptstadt« Rahat, mit 52.000 Einwohnern, liegt innerhalb des Raketen-
radius.
17 von al-Mahdis Kollegen wurden durch den Raketeneinschlag verletzt, die meisten waren Araber, drei von ihnen Beduinen aus Rahat. Fayes Abu Sahiban, der Bürgermeister von Rahat, kritisierte Israel, während er seinen Cousin, der un-
ter den Verwundeten war, im Krankenhaus von Aschkelon besuchte. »Israel sollte die Angriffe im Gasastreifen beenden, und die Hamas sollte ihre Raketenangriffe einstellen«, sagte er. »Beide Seiten sollten unter der Vermittlung Ägyptens miteinander verhandeln.«
In Rahat herrscht relative Ruhe. Der Polizeichef der Stadt, Eyal Azulay, sagte der Jerusalem Post: »Es gab eine Demonstration gegen die israelische Militäraktion mit etwa 400 Teilnehmern, die aber friedlich verlaufen ist.« Unmittelbar nach Beginn der israelischen Militäraktion traf Azulay sich mit zehn beduinischen Stammesführern, um zu beratschlagen, wie sich die Ruhe in der Bevölkerung bewahren lässt. An gewalttätigen Ausschreitungen hat hier niemand Interesse. »Eyal, wenn hier irgendjemand Ärger macht«, sagt ei-
ner der Scheichs, »gib uns Bescheid, und wir kümmern uns um ihn.«
Die Beduinen in Israel sitzen zwischen den Stühlen. Einerseits Araber und Moslems und dem Denken der Stammesgesellschaft noch sehr stark verbunden, fühlen sie sich sozusagen moralisch zur Solidarität mit den Palästinensern verpflichtet. Andererseits wissen sie, was sie Israel zu verdanken haben und sind zum größten Teil loyale Staatsbürger. Anders als in sämtlichen arabischen Ländern haben Be-
duinen hier Bürgerrechte, Anspruch auf staatliche Sozialleistungen und können Grundbesitz erwerben. Zwar sind Armut und Kriminalität unter den Beduinen Israels weiter verbreitet als in der Gesamtbevölkerung, doch mithilfe eines staatlichen Infrastrukturprogramms ist es zum Beispiel gelungen, die Analphabetenrate während der letzten Generation von 95 auf 25 Prozent zu senken. Fast alle jüngeren Beduinen können heute lesen und schreiben. Schulen und Universitäten fördern sie gezielt. Die Ben-Gurion-Universität des Negev ist stolz darauf, dass sich immer mehr Beduinen unter ihren Studenten und Doktoranden befinden.
Heute leben etwa 170.000 Beduinen in Israel, davon 110.000 im Negev. In den 60er-Jahren begann der Staat, Städte für die traditionell in Zelten lebenden Beduinen zu bauen. Die erste, Tel Shewa bei Beer Shewa, entstand 1967. Heute gibt es sieben Beduinenstädte, die größte ist Rahat mit etwa 52.000 Einwohnern.
Viele Beduinen dienen freiwillig in der Armee und bei den Polizeikräften. An der zweiten Intifada hatten sie sich nicht beteiligt. Und dennoch gibt es gefühlte Diskriminierung. In Rahat gibt es, anders als etwa in Sderot, kaum Bombenschutzräume. Vergangene Woche landete eine Grad-Rakete der Hamas in einem Zeltdorf bei Rahat. Die Wut von Hassan el-Rafia, einem Mitarbeiter der Stadtverwaltung von Rahat, richtet sich gegen die Israelis. »Dass sie hier keine Sicherheitsvorkehrungen treffen, ist klare Diskriminierung«, beklagt er sich. »So behandeln sie uns Araber.« Viele Beduinen leben noch heute in Zeltdörfern, die von der israelischen Regierung aber nicht als Ortschaften anerkannt werden und daher auch keine Infrastruktur erhalten.
Aber nicht überall lassen sich jüdische Israelis und Beduinen von der Hamas gegeneinander ausspielen. Im Gimmel-Viertel von Beer Schewa, wo ebenfalls zahlreiche Beduinen leben, sitzen Araber und Juden gemeinsam im Bunker. »Was habe ich mit der Hamas zu tun?«, fragt ein Araber den Journalisten Abe Selig. »Die schießen Raketen auf mein Zuhause. Denen ist es doch egal, dass hier Araber leben.« Und ein anderer ergänzt: »Ich lebe seit zehn Jahren im Gimmel-Viertel. Das hier stehen wir gemeinsam durch. Es gibt hier keine ›Araber’ und ›Juden’. Wir sind alle eins.«