stipendien

Gewissen für das Ganze

Am 11. November ist das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk eröffnet worden, die 12. Einrichtung der Begabtenförderung in Deutschland. Zwei Tage nach dem 9. November, der uns an den schrecklichen Zivilisationsbruch ebenso erinnert wie an das Glück des Mauerfalls, der zur Wiedervereinigung unseres Vaterlandes geführt hat. Die Erinnerung an die Reichspogromnacht ist auch die Erinnerung an das totale Versagen der Eliten. Das war nach dem Zweiten Weltkrieg ein Grund dafür, dass es in der jungen Bundesrepublik schwierig war, über Eliten zu sprechen. Zu sehr war ihr Versagen präsent, das zu den dunkelsten Jahren in unserer Geschichte geführt hatte. Zu sehr wurde Elite verbunden mit Privilegien, nicht aber mit Verantwortung.
Aus dieser Erfahrung ist unser Verständnis von Eliten als Verantwortungseliten entstanden. Daraus hat sich auch die Grundidee für die Begabtenförderungswerke in unserem Land entwickelt. Herausragende Leistungen im Studium alleine reichen für eine Förderung der Stipendia- tinnen und Stipendiaten nicht aus. Hinzu muss die Bereitschaft derer kommen, die gefördert werden, sich zu engagieren und Verantwortung zu übernehmen.

Respekt Ein Begabtenförderungswerk ist nicht dann erfolgreich, wenn es vielen jungen Menschen dabei hilft, Karriere zu machen. Es ist dann erfolgreich, wenn es junge Menschen unterstützt, die ein Gewissen für das Ganze haben, die Zivilcourage zeigen, die die Mauern in den Köpfen und Herzen zu Fall bringen, die an der fortwährenden Kultivierung einer Gesellschaft mitwirken – die ihre Talente nicht nur für sich einsetzen, sondern auch für das Wohlergehen anderer; Menschen also, die ihre Fähigkeiten nicht als Grund für Privilegien verstehen, sondern sich in die Pflicht nehmen lassen. Träger der Begabtenförderung in Deutschland sind die Parteien, die Gewerkschaften und die Wirtschaft, die beiden großen christlichen Kirchen und jetzt auch die Religionsgemeinschaft der Juden in Deutschland. So entsteht ein breites plurales Angebot für die Studierenden.
Die Pluralität der Träger in der Begabtenförderung ist im internationalen Vergleich eine Besonderheit. Gesellschaftlich relevante Gruppen übernehmen Verantwortung für die Heranbildung von Eliten. Ihre Arbeit hat in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich dazu beigetragen, dass wir heute wieder unbefangen von Eliten sprechen können. Die Einsicht hat sich durchgesetzt, dass eine demokratische Gesellschaft auf deren Ausbildung nicht verzichten kann.
Das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk hat es sich zum Ziel gesetzt, seinen Stipendiatinnen und Stipendiaten dazu zu verhelfen, auf der Grundlage ihres jüdischen Glaubens eigene Positionen zu finden und zu festigen. Sich seiner eigenen religiösen und kulturellen Überzeugungen zu vergewissern, hilft dabei, den Glauben und die Überzeugungen der anderen zu respektieren. Junge Menschen darin zu unterstützen, eine eigene weltanschauliche Position herauszubilden und sie zu festigen, ist eine der wichtigsten Aufgaben eines konfessionellen Begabtenförderungswerks. Der Name Ernst Ludwig Ehrlich ist Herausforderung und Programm zugleich. Über viele Jahrzehnte war der Historiker und Judaist, der während des Nationalsozialismus aus Deutschland fliehen musste, einer der wichtigsten jüdischen Gesprächspartner im christlich-jüdischen Dialog. Er hat als Berater von Augustin Kardinal Bea dem Zweiten Vatikanischen Konzil wichtige Impulse gegeben für das Gespräch der Religionen und durch Aussöhnung und Dialog Brücken gebaut. Nicht Mauern aufzurichten, sondern Brücken zu bauen – Brücken zwischen Nationen, Kulturen und Religionen – gehört zu den großen Aufgaben heutiger Eliten. Sie haben den Auftrag, Impulse zu geben für den Dialog und mit ihrem Einsatz die Grundlagen für ein gedeihliches Miteinander zu legen. Sie wirken mit an einer Kultur des Respekts. Das bleibt auch im 21. Jahrhundert eine bedeutsame Aufgabe, weil wir noch weit entfernt sind von einer Kultur des Respekts. Immer noch existieren Mauern in den Köpfen und Herzen auch derer, die sich mit anderen religiösen Überzeugungen schwer tun. Immer noch herrscht Friedlosigkeit und Gewalt auch durch die Instrumentalisierung von Religion für Zwecke der Selbstbehauptung und Gewalt.
Die Bundesregierung misst der Begabtenförderung in Deutschland eine hohe Bedeutung bei. Wir konnten bereits in der vergangenen Legislaturperiode die finanziellen Mittel deutlich erhöhen. Das wird sich in dieser Legislaturperiode fortsetzen. Das Büchergeld wird einkommensunabhängig auf 300 Euro aufgestockt werden. Daneben erhalten die Universitäten und Hochschulen die Möglichkeit, Stipendien zu vergeben, die im Rahmen eines Nationalen Stipendienprogramms aufgebaut werden. Dies geschieht durch die Verbindung privater Investitionen mit staatlichen Leistungen des Bundes und der Länder.
Dieses neue Nationale Stipendienprogramm ist keine Konkurrenz zu den zwölf Begabtenförderungswerken. Es ist ein weiterer Baustein, mit dem wir erreichen wol- len, dass bis zu zehn Prozent der Studierenden in Deutschland die Möglichkeit zu einem Stipendium erhalten. Das ist ein starkes Signal und eine große Chance für unsere Hochschulen. Sie sind damit auch herausgefordert, sich mit ihren Studenten intensiver zu beschäftigen und eine gewissenhafte Auswahl für die neuen Stipendien sicherzustellen.
Den Trägern des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks sei an dieser Stelle sehr für ihre Initiative zur Gründung des neuen Studienwerkes gedankt. Ich danke Ihnen insbesondere für Ihre Bereitschaft zur Förderung junger begabter Studenten. In der jü- dischen Tradition sind Bildung und Wissenschaft von herausragender Bedeutung für jüdische Identität. Das zeigen nicht zuletzt auch die Schulen, die in der Trägerschaft jüdischer Gemeinden in Deutschland entstanden sind. Die jüdische Oberschule und die Grundschule in Berlin sind hierfür überzeugende Beispiele. Davon habe ich mich auch bei einem Besuch in der jüdischen Grundschule vor einigen Jahren überzeugen können. Sie leistet einen bemerkenswerten Beitrag zur Integration von Kindern aus Zuwandererfamilien. Wir sprechen viel von den Schwierigkeiten der Integration. Diese Schule ist ein Beispiel dafür, dass sie gelingen kann.

inspiration Die künftigen Stipendiatinnen und Stipendiaten des Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerks sind in meinen Augen auch potenzielle Interessenten für die Martin-Buber-Gesellschaft, die an der Hebrew University in Jerusalem auf meine Initiative hin neu gegründet ist. Damit soll in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften der Austausch zwischen jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland und Israel gefördert werden.
Wir leben mit der Trauer und Schuld über die Vernichtung jüdischer Kultur in Deutschland in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Wir sind unendlich dankbar für die Wiederkehr jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in unserem Land. Das Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk steht auch für diese Wiederkehr. Diese Begabtenförderung ist ein gutes Zeichen und wird generell auf die Weiterentwicklung der Begabtenförderung in Deutschland inspirierend wirken.
Bei der Wiedereröffnung der Synagoge Rykestraße im August 2007 rief der 94-jährige Rabbiner Leo Trepp der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland zu: »Pflanzet, sät und erntet! Das ist ein Auftrag, ein Gebot!« Ebensolches wünsche ich dem Ernst-Ludwig-Ehrlich-Studienwerk von Herzen.

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