Marek Edelman sitzt in einem Rollstuhl, in seinem Arm hält er einen Strauß Narzissen. Es ist der 19. April 2009, ein milder, sonniger Frühlingstag. Edelman nimmt – wie in jedem Jahr – an dem Gedenken teil, das den Aufstand im Warschauer Ghetto in Erinnerung rufen soll. Er legt an dem Mahnmal für die jüdischen Kämpfer, die sich im Frühjahr 1943 den deutschen Besatzern entgegengestellt haben, die Blumen nieder. Niemand der Umstehenden ahnt, dass Marek Edelman, einer der legendären Kommandeure des Aufstands, zum letzten Mal an der Zeremonie teilnimmt. Ein knappes halbes Jahr später, an Erew Sukkot, in der Nacht vom 2. zum 3. Oktober, ist Edelman in seiner Warschauer Wohnung gestorben.
Der Tod von Marek Edelman, der zwischen 1919 und 1922 – das genaue Datum ist unbekannt – im heute weißrussischen Gomel geboren wurde, hat in Polen große Trauer und Bestürzung hervorgerufen. Ob Ministerpräsident Donald Tusk oder Friedensnobelpreisträger Lech Walesa, ob Oberrabbiner Michael Schudrich oder Israels langjähriger Botschafter in Polen, Szewach Weiss – sie alle würdigten Edelman als Helden, als Vorbild, als Patrioten und als Autorität. Er habe ihn sehr bewundert, sagte Premierminister Tusk. Edelmans Autorität habe die Demokratie im freien Polen »ver- edelt«. Oberrabbiner Schudrich betonte, Edelman habe für sein Land mehr gekämpft als jeder andere. Er habe dies aber nicht für sich selbst getan, sondern um zu zeigen, dass die Juden im Ghetto sich nicht wie Schafe zur Schlachtbank führen ließen.
Szewach Weiss würdigte Edelman als »Symbol der Versöhnung zwischen Polen und Juden« und als »Gewissen« der neuen demokratischen Staaten Europas. Edelman habe stets darauf hingewiesen, dass die Juden ihren Platz in Europa hätten – sie seien das »Lackmuspapier« für die Demokratien.
Doch nicht nur offizielle Vertreter aus Politik, Gesellschaft und Religion würdigten Edelman, sondern auch die polnischen Medien räumen seinem Leben und Wirken breiten Raum ein. Sondersendungen im Radio und Fernsehen zeichnen Edelmans ereignisreiches Leben nach, die Zeitungen bringen ausführliche Nachrufe. Adam Michnik, Chefredakteur der Gazeta Wyborcza und langjähriger Weggefährte Edelmans, titelt seinen persönlich gehaltenen Nachruf mit den Worten: »Danke, Marek, dass du mit uns warst.« Edelman sei als »polnischer Jude und jüdischer Pole ein Held zweier Nationen«. Er sei mit »unglaublicher Würde« durch die »Hölle des Holocausts« gegangen und durch den »Schlamm der kommunistischen Diktatur«. Sein Leben sei ein »jüdisches und polnisches Zeichen des Widerspruchs und Nonkonformismus« angesichts des »Unrats unserer Welt« gewesen.
In der Tat hat sich Edelman zeit seines Lebens mit klaren Worten und unmissverständlichem Verhalten auf die Seite der Schwächeren und Unterdrückten geschlagen: als letzter Kommandeur im Warschauer Ghettoaufstand, ein Jahr später als Kämpfer im Warschauer Aufstand, als Oppositioneller im kommunistischen Polen und Mitgründer der Gewerkschaft Solidarnosc, nach 1989 in seinem Einsatz für Minderheiten und Flüchtlinge des Balkankriegs. Im Unterschied zu den meisten anderen überlebenden Juden hatte Edelman sein Heimatland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht verlassen. Er blieb, der antisemitischen Politik der polnischen Kommunisten zum Trotz, und wirkte in Lodz als erfolgreicher und angesehener Herzspezialist. Seine Tätigkeit als Arzt habe ihm ermöglicht, das zu tun, was er im Ghetto nicht vermocht habe, sagte er einmal: Leben zu retten.
Ein besonderes Herz hatte Edelman auch für junge Menschen, in denen er die Hoffnung für eine bessere Zukunft sah. »Fragt mich!«, lautete sein Motto, und bereitwillig erzählte er aus seinem Leben. »Wenn die Erinnerung nicht bleibt, dann kann sich alles wiederholen. Und je mehr man sich erinnert und weiß, desto größer die Chance, dass es sich nicht wiederholt.« Und so ist auch die Trauer über Edelmans Tod unter jungen Leuten groß. Es sei eine Epoche zu Ende gegangen, sagt eine junge Frau in einem Krakauer Café. Es gebe niemanden, der seinen Platz einnehmen könne. Und was danach komme? Sie zuckt mit den Achseln und zeigt auf das Buch, das sie gerade liest: Edelmans neues Werk, dessen Erscheinen er noch miterlebt hat. Es trägt den Titel Und es gab Liebe im Ghetto. Uwe von Seltmann
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