Das Metall ächzt und das Holz knarrt – Rabbiner Salomon Wurmser zieht mit kräftigen Zügen an einem Seil und hakt es mit einer Schlaufe an einem Wandhaken ein. Dann hängt er sein Gewicht an ein zweites Seil, zieht und befestigt es ebenso – das Bild erinnert an einen Matrosen auf einem Segelschiff. Über seinem Kopf stehen nun zwei von fünf Dachsegmenten sperrangelweit offen, sie ragen senkrecht in den blauen Himmel. Licht fällt auf sein Gesicht und auf den Fußboden. Die Zwischendecke, die einst aus Zweigen luftig geflochten wurde, zerfasert den Sonneneinfall in schlanke Strahlen. Die Decke unterteilt sich in Kassetten, in deren Rahmen die Zweigmatten eingefasst sind. »Darüber liegt der Dachboden mit den Luken, die ich von hier aus alle über Seilzüge öffnen kann«, sagt der 25-jährige Rabbiner.
Dann geht Wurmser ins Treppenhaus, steigt die Stufen eine Etage höher und öffnet die Türe zum darüberliegenden Dachboden mit den mächtigen Holzklappen. Die Seile, die er eben unten noch gezogen hat, liegen hier auf Rollen und führen zum Klapp-Mechanismus mit Winden, Scharnieren und Gewichten. Die beiden offen stehenden Dachsegmente geben den Blick auf die Dächerlandschaft der mittelfränkischen Großstadt Fürth frei.
Vorreiter Diese Variante einer Sukka ist etwas Besonderes. Wenn in diesem Jahr vom 3. bis 11. Oktober das Laubhüttenfest fröhlich gefeiert wird, dann bauen die Menschen wieder ihre Hütten meist in Hinterhöfen auf, in Israel sogar auf den Straßen. In Fürth kamen die Provisorien früher auch auf speziellen Flachdächern zur Geltung. Die Experten vermuten, dass hier die erste Sukka anno 1528 aufgebaut wurde. Denn zu dieser Zeit haben die Juden das Niederlassungsrecht in Fürth erhalten, während sie in der Nachbarstadt Nürnberg noch ausgegrenzt waren.
Warum sich auf dem Dachboden in der Fürther Hallemannstraße allerdings einst ein solcher Mechanismus durchgesetzt hat, lässt sich nicht mit letzter Gewissheit sagen. Klar aber ist: Das 1868 erbaute, vierstöckige Gebäude war seinerzeit das Zu-
hause für viele elternlose, jüdische Kinder – das erste jüdische Waisenhaus in ganz Deutschland. Und für den Nachwuchs war auch die Sukka mit den Dachklappen be-
stimmt. Heute leben hier in den Wohnungen Gemeindemitglieder, das Dach mit seiner einmaligen Funktion blieb jahrzehntelang unbeachtet. Bis ins Jahr 2007. Da ließ die damalige Vorsitzende der Israelitischen Kultusgemeinde in Fürth, Gisela Naomi Blume, den Mechanismus reparieren. »Mir ist diese Form von einer Sukka bisher kein zweites Mal begegnet«, sagt Blume.
Während des Laubhüttenfestes ab dem 3. Oktober gedenken die Menschen in der Diaspora acht Tage lang (sieben Tage in Israel) dem Auszug aus Ägypten und der anschließend 40 Jahre dauernden Wanderung des jüdischen Volkes durch die Wüste. Doch sind es fröhliche jüdische Feiertage, die mit dem Auszug auch Erntedank verbinden. Die Hütte gilt für diese Zeit »als gute Stube für die ganze Familie«, erklärt Rabbiner Wurmser. Die Leute wohnen und teils übernachten sie dort auch. »Das Provisorium wird mit Zweigen und hübschen Teppichen geschmückt. Für die Mahlzeiten holen die Feiernden sogar ihr bestes Geschirr heraus«, erklärt Blume.
Bescheidenheit Mit dem Bezug zum biblischen Exodus soll das Bauen der Laubhütte überdies daran erinnern, dass die Menschen sich in der Welt auf Materielles wenig verlassen können, weil es jederzeit verloren gehen kann. Eine Hütte muss mindestens drei Wände haben, es können auch vorhandene Mauern genutzt werden. Das Dach muss aus natürlichem Material bestehen, aus Holz, Buschwerk oder – wie die Zwischendecke der Sukka in der Hallemannstraße – aus locker-luftig geflochtenen Zweigen. Denn in jedem Fall muss der Himmel durch die Decke zu sehen sein. »Der Brauch wäre nicht koscher, wenn die Sonne und die Sterne nicht direkt über den Köpfen strahlen.« Wichtig, so Blume, sei auch, dass kein botanisches Material wie der Wein an einer Gartenlaube aus dem Boden emporwächst. »Zweige und Äste müssen abgeschnitten sein«, so Blume. Werden Hütten in Höfen oder auf Balkonen gebaut, dürfe auch kein Dachvorsprung darüber sein. »Ist das Wetter schlecht, dann sollte wenigstens die erste Mahlzeit am Vorabend in der Hütte eingenommen werden.«
Regnet es dagegen in das offene Dach der Sukka im Fürther Gemeindehaus, lassen sich die Luken in Handumdrehen verschließen. Dennoch feiert Rabbiner Wurmser mit seiner Gemeinde mit ihren rund 300 Mitgliedern in einem Hinterhof der Gemeinde. »Viele Mitglieder sind schon alt und gebrechlich, die vielen Stufen hinauf zur Sukka unter dem Dach sind ihnen zu anstrengend.« Auch übernachten sie während der acht Tage nicht in der Hütte im Hof, genießen dort aber verbindende Mahlzeiten und kleinere Vorträge aus religiösen Schriften.
Auf die Frage, ob denn die Sukka unter dem Dach gar nicht mehr genutzt wird, lächelt der 25-jährige Rabbiner. »Doch«, sagt er, »sie wird genutzt. Ich selbst wohne, koche und übernachte hier mit meiner Frau acht Tage lang – und das schon zum dritten Mal.«