Demokratische Werte

Getöse und Geplapper

von Reinhard Mohr

»Postdemokratie« lautet der Titel eines derzeit erfolgreichen Buches, in dem der britische Politologe Colin Crouch behauptet, die gute alte Demokratie sei eigentlich am Ende. Die These passt gut zum Zeitgeist. Demokratieverachtung ist populär wie lange nicht. Wahlen werden als formaler Krimskrams abgetan, Hartz IV scheint vielen schlimmer als systematische Menschenrechtsverletzungen in China, Russland oder Iran, und im Zweifel sind Amerika und Israel – die einzige Demokratie im Nahen und Mittleren Osten – schuld am üblen Zustand der Welt.
Auch in den Massenmedien wird die parlamentarisch verfasste, westeuropäisch-atlantische Demokratie skandalös schlecht verteidigt – von Politikern ebenso wie von Journalisten. Die Selbstdarstellung der Demokratie durch die »politische Klasse« scheint substanzlos und ausgezehrt, defensiv bis zur Gleichgültigkeit, politisch entkernt und rhetorisch schwach, ganz so, als fehlten die Argumente zu ihrer Begründung. Neben der Fähigkeit, Zusammenhänge auf den Punkt zu bringen, mangelt es auch an der Leidenschaft zum offenen Streit mit jenen, deren Opportunis-
mus sich ganz unverhohlen der wohlfeilen Politikerverachtung bedient und zynisch auf die politische wie historische Unbildung vieler Bürger baut.
Seit geraumer Zeit wird immer deutlicher, dass es dabei zu einem unseligen Zusammenspiel von Politik und Medien kommt. Zum Problem wird es, wenn das Ganze verloren zu gehen droht, nicht zuletzt: der Blick auf das Ganze. Gemeint sind nicht jene ominösen »Werte«, um die sich im Zweifel die evangelische Kirche und Ulrich Wickert kümmern – es sind vor allem Abstand und Überblick, die abhanden kommen, das Maß der Dinge.
Längst hat sich der Streit ums bessere Argument auf die Ebene gefühlter Gewissheiten verlagert, ins Reich von Ängsten und Verschwörungstheorien, Ressentiments und dumpfer Abwehrhaltung gegen jede geistige Zumutung. Auf diese Weise entsteht ein künstliches »Narrativ«, eine nachvollziehbare, glaubhafte Erzählung, die mit der Realität nur noch sehr bedingt etwas zu tun hat. Viel Fiction, wenig Fakten.
»Infotainment« und »Politainment«, zwei populäre Begriffe aus der Medienwissenschaft, lassen grüßen. Selbst das, was passiert, das »Ereignis«, ist längst nicht mehr nur das schlichte Geschehen an sich. Es ist inszeniert und selbstreferenziell – ein Spiegelkabinett. Immer häufiger geht es um die pure Außenwirkung eines Ereignisses, die sich an der Stärke von Aufmerksamkeit, Gefühlsaufwallung und Stimmungskurve misst, weniger um seine tatsächliche Bedeutung für den Lauf der Welt.
Die bunte Schaukel der Massenmedien sorgt zuverlässig dafür, dass die ewige Wellenbewegung zwischen Aufregung und Abregung immer schön im Lot bleibt: Nach der Katastrophe ist vor Johannes B. Kerner, nach dem Alarm kommt die Gemütlichkeit.
Politisch prekär wird es, wenn die Schemata der Weltwahrnehmung, die die Massenmedien tagtäglich feilbieten, diese Mischung aus Alarmismus und Massenunter-
haltung, eine kluge, realistische Selbst- und Welteinschätzung immer mehr unter sich begraben. So werden politisches Desinteresse, Unwissen und Abstumpfung befördert. Immer dann, wenn der »Sensationismus als zentrale Wahrnehmungsform moderner, urbaner Gesellschaften« (Christoph Türcke) zur vorherrschenden Form der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung wird, gerät die Differenzierung des Denkens unter die Räder.
Wie im Teufelskreis tritt die Moralisierung an ihre Stelle und mit ihr das schlichte Schwarz-Weiß-Denken: Wer ist schuld? Wer hat’s verbrochen? Gerade die quotenfixierten Massenmedien, geübt in der alltäglichen Reduktion von Komplexität, liefern frei Haus die Bilder der vermeintlich Schuldigen. Am Ende geht es nur noch um Täter und Opfer, um allgegenwärtige Experten als Propheten des Unheils und politische Populisten, die genau wissen, wer Täter und wer Opfer, wer schuldig und wer unschuldig ist. So ist die Moralisierung nichts weiter als der Scheinausweg einer selbst produzierten Falle, die Medien und Politik, unter dem Druck von Mehrheit und Quote, zwanghaft vereint.
Was zählt, ist das Gefühl, etwas zu wissen, etwas zu meinen. So wie im Fernsehen die Art des Auftritts wichtiger ist als das nachprüfbare Argument, so ist beim Bürger draußen im Lande die Stimmung wichtiger als jede Sachkenntnis. Es genügt jeweils die Plausibilität auf den ersten Blick, das Moment des irgendwie Verständlichen und Nachvollziehbaren. Hauptsache, es wirkt »echt« und »authentisch«. Gerne auch »dramatisch«. Dann wird selbst der größte Unsinn geglaubt. Der endemische Alarmismus der Medien begünstigt noch das flächendeckende Worst-case-Denken, welches mit Vorliebe jeweils das schlimmstmögliche Szenario entwirft. Durch all das Getöse und Gedröhne, Geplapper und Geraune macht man sich am Ende selber kirre.
So werden Negativismus, Obskurantismus und Paranoia zur profanen Ersatzreligion einer Gesellschaft, die sich mit sich selbst nicht mehr auskennt und Selbstsuggestion als pure Illusion des Wissens betreibt. Zum Schluss weiß sie selbst nicht mehr, was Demokratie ist und was Freiheit bedeutet. Dann aber sollten wirklich die Alarmglocken schrillen.

In eigener Sache

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