Gedanken

Gesundheit!

von Rabbiner Berel Wein

Es liegt auf der Hand, dass Gesundheit ein nicht hoch genug zu schätzendes Gut im Leben ist. Das gilt für alle Altersstufen und Lebensstadien, ganz augenscheinlich aber und lebensnotwendig wird es, wenn man älter wird. Unabhängig von Alter oder Gesundheitszustand beten wir dreimal täglich darum, »geheilt« – das heißt gesund – zu sein. Wenn Menschen, ganz gleich in welcher Sprache, einander begrüßen, verwenden sie stets Formeln, mit denen sie die Hoffnung auf eine gesegnete Gesundheit ausdrücken.
Denn der menschliche Körper, so wunderbar kompliziert und exakt, wie er ist, ist gewiss all das und noch viel mehr, doch eben auch äußerst zerbrechlich und empfindlich. Alles muss richtig funktionieren, damit wir uns gesund und wohl fühlen. Der kleinste Schmerz, selbst ein vergleichsweise geringfügiges Unbehagen wirken sich auf unsere Stimmung, auf unsere Kreativität und auf unser Selbstwertgefühl aus. Dem Berufssportler wird ständig geraten oder sogar befohlen, zu spielen, auch wenn er verletzt ist. Aber im wirklichen Leben fällt es schwer, »trotz Verletzung zu spielen«. Und Leute, die mit guter Gesundheit und einer schmerzfreien Existenz gesegnet sind, gelingt es nur in seltenen Fällen, sich völlig in ihre weniger glücklichen Mitmenschen einzufühlen. »Hör mit dem Gejammer auf«, sagen wir zu unseren Kindern, wenn sie wegen eines körperlichen Wehwehchens klagen und weinen. Diese wenig mitfühlende Einstellung steckt leider tief in uns, auch dann noch, wenn wir es mit Erwachsenen und gewichtigeren Problemen zu tun haben. Um dieser anscheinend angeborenen Unempfindlichkeit gegenüber der Lage und den Gefühlen anderer Menschen entgegenzuwirken, trägt die Tora uns auf, das Gebot des Krankenbesuchs – Bikur Cholim – zu erfüllen.
Die Tora leitet diesen Bestandteil menschlichen Tuns, nämlich die Kranken zu besuchen und sie aufzumuntern, daraus ab, dass Gott sozusagen unseren Vater Abraham besuchte, nachdem dieser sich der Beschneidungsoperation unterzogen hatte. Tatsächlich wird der heilende Engel Rafael ausdrücklich zu dem Zweck in das Zelt Abrahams entsendet, den Schmerz zu vermindern und bei der Heilung der Wunde zu helfen. So ist der Krankenbesuch im jüdischen Denken und Verhalten nicht nur eine gesellschaftliche Artigkeit, sondern eine göttliche Unternehmung.
Eine gewöhnliche menschliche Verhaltensweise mit einem Gefühl von Heiligkeit und Mission auszustatten, ist eines der großartigsten Merkmale eines Toralebens. Daher ist der Besuch bei einem Kranken ein Wert, von dem man »auf dieser Welt die Früchte erntet, während der eigentliche Lohn aufbewahrt und erst in der kommenden Welt ausbezahlt wird«.
Aber wie hilft der Krankenbesuch dem Kranken? Der Talmud lehrt uns, dass der Besuch ein Sechzigstel der Krankheit wegnimmt. Damit wollen die Rabbiner sagen, dass die Fürsorge, die sich in dem Besuch kundtut, den kranken Menschen an sich aufmuntert und ihm ein gutes Gefühl gibt. Für den Kranken wird die Bürde seines Leidens etwas leichter. Es gibt natürlich Situationen, in denen Besuche nicht erlaubt sind, und auch sonst sollte der Besuch nicht überlang sein und den kranken Menschen zu sehr anstrengen. Dennoch sind in den meisten Fällen Fürsorge und Teilnahme, die im Besuch von anderen sichtbar werden, ein Segen für die Gesundheit und das Wohlbefinden eines Menschen.
Der Talmud lehrt zudem, dass Krankheit bis in die Zeit unseres Vaters Jakob relativ unbekannt gewesen sei. Sie wurde auf Wunsch von Jakob höchstpersönlich eingeführt, um den Menschen eine Chance zu geben, ihre Angelegenheiten auf dieser Welt in Ordnung zu bringen und sich auf den Übergang in die ewige Welt vorzubereiten. Daher wurde Krankheit nicht immer als etwas völlig Negatives angesehen. Jedenfalls ermöglicht sie es, dass wir Denken und Tun auf die wichtigen Dinge im Leben konzentrieren und von den Belanglosigkeiten, die unser Dasein so oft ausfüllen, wegkommen.
Krankheit wurde auch als Form von Sühne für in dieser Welt begangene Sünden angesehen. Dennoch bitten wir in unseren Gebeten an Jom Kippur Gott darum, unsere Sünden zu löschen und zu sühnen, ohne zu dem Mittel der Krankheit und des Schmerzes zu greifen. Unsere Gebete, verschont zu werden, sind legitim und gerechtfertigt. Denn oft resultiert die fehlende körperliche Gesundheit letzten Endes auch in einer schwachen spirituellen Gesundheit. Es gibt in der jüdischen Geschichte viele Beispiele von großen Menschen, die über ihre schlechte Gesundheit hinauswuchsen und spirituell größer und stärker wurden.
Doch oftmals hat eine schlechte Gesundheit die gegenteilige Wirkung auf einen vor dem frommen und vorbildlichen Menschen. Da es in dieser Sache keine verbindlichen, auf alle Individuen und Umstände anwendbaren Regeln geben kann, sind unsere Gebete an Gott um die Wahrung unserer Gesundheit in Ordnung, und sie werden für notwendig und gerechtfertigt erachtet. Deshalb werden wir weiterhin uns selbst und allen, die uns begegnen, eine gesegnete Gesundheit und ein langes Leben wünschen.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.rabbiwein.com

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