von Wladimir Struminski
Knisternde Spannung wird man in Jerusalems Internationalem Kongreßzentrum vergeblich erwarten. Die Hostessen, in adrettes Dunkelblau gekleidet, gehen gemächlichen Schrittes die Gänge herauf und herunter. Am letzten Tag des 35. Zionisti- schen Kongresses sind sie des vielen Laufens müde. Kein Lächeln mehr. Sie wollen nach Hause.
Im und um das Ussischkin-Auditorium haben sich die Delegierten versammelt. Die einen stehen in kleinen Grüppchen beieinander. Die anderen halten das Handy in der einen Hand, gestikulieren mit der anderen, als könnte das Rudern in der Luft den unsichtbaren Gesprächspartner überzeugen. Andere verharren in ihren Sitzen, verbergen sich hinter der Jerusalem Post oder der englischsprachigen Ausgabe von Haaretz.
Dann geht es weiter im Programm. Ein weißhaariger Herr tritt ans Rednerpult. Theodore Bikel, der Doyen jiddischer Chansonniers. Diesmal singt er aber nicht, sondern stellt seine rhetorischen Künste als Delegierter des Friedenslagers unter Beweis. Für Israels Sicherheit, beteuert er, setze er sich nicht weniger engagiert als »andere« – sprich, die Rechten – ein. Genauso stark aber sei sein Einsatz für die Gerechtigkeit und Chancengleichheit aller Bewohner Israels.
Vorhersehbare Worte, vorhersehbare Reaktionen. Ein Teil der Zuhörer klatscht, ein anderer buht, ein weiterer liest weiter Zeitung. Dann wird die Abstimmung über eine Resolution ausgerufen. Wer gerade draußen im Gang ist, läuft – je nach Alter und Körpergewicht mehr oder minder geschwind – in den Saal. So wird ein Beschluß nach dem andern verabschiedet. Es wird mehr zionistisches Engagement versprochen, der Kampf gegen die Assimilation postuliert, die Einheit des jüdischen Volkes beschworen, die Stärkung der Verbindungen zwischen Israel und der Diaspora in Aussicht gestellt.
Trotz solcher grundlegenden Themen gleicht der Kongreß einer geschlossenen Gesellschaft. Die israelische Öffentlichkeit nimmt ihn jedenfalls so gut wie nicht wahr. Die Berichterstattung der Medien ist kurz, fast eine Pflichtübung. In der täglichen Flut von Nachrichten – Kassam-Raketen oder Börse – geht das Zionisten-Forum unter. In der Tat, die Resolutionen werden den Alltag der Israelis nicht verändern. Selbst wenn sich die Delegierten an Kontroverses wagen und die Einführung der Zivilehe fordern. Die politischen Kräfteverhältnisse im real existierenden jüdischen Staat werden dafür sorgen, daß die Forderung der Weltzionisten auf dem Papier bleibt.
Da ist die Fußball-WM viel interessanter. Unter diesen Umständen sehen sich die Kritiker, die der zionistischen Bewegung von heute die Daseinsberechtigung absprechen, bestätigt. Jossi Beilin, Vorsitzender der Meretz-Partei und Querdenker, wirft dem organisierten Zionismus vor, er habe sich überlebt. Ist die Jerusalemer Veranstaltung also eine Übung in Bedeutungslosigkeit? Gilad, ein junger israelischer Kongreßbeobachter, widerspricht. »Das ist keine Werbeveranstaltung für die Massen. Hier kommen die aktivsten Mitglieder der zionistischen Bewegung zusammen, Menschen mit einer starken Ideologie, die sich aus tiefer Überzeugung für Israel einsetzen. Für sie ist der Kongreß unerläßlich. Indem sie hier zusammenkommen, bleiben sie engagierte Juden und Israels Botschafter im Ausland.«
Zu diesen gehört auch Connie Kreshtool aus dem US-amerikanischen Delaware. Die zierliche Seniorin vertritt die zionistische Reformbewegung Arzenu und ist zum fünften Mal dabei. »Wir setzen uns für ein pluralistisches Israel ein. Unsere Stimme muß gehört werden.« Daß der Staat Israel die reformierte Strömung des Judentums stiefmütterlich behandelt, findet Connie zwar enttäuschend, doch das ist kein Grund für sie, auf ihr Engagement zu verzichten.
Allerdings scheinen sich so gut wie alle Teilnehmer in ihrer Forderung nach einer Reform des organisierten Zionismus einig zu sein. Aus Gesprächen am Rande des Kongresses – an dem auch 12 Vertreter der Zionistischen Organisation in Deutschland unter Leitung von Präsident Robert Guttmann teilnahmen – wird der übermächtige Wunsch der Delegierten nach mehr Partizipation deutlich. In der Praxis, so viele Teilnehmer, träfen die bezahlten Funktionäre aus Jerusalem die wichtigsten Entscheidungen allein. Das sei nicht nur undemokratisch, sondern auch demotivierend. Rabbiner Yosef Blau, Präsident der national-
religiösen Mizrahi-Bewegung in den USA, klagt: »Selbst über den Etat entscheiden die Gehaltsempfänger. Die Delegierten werden nicht einmal ausreichend informiert.« Der Einfluß der Geldgeber aus der Diaspora wird auch von vielen beklagt.
Besonders heftige Kritik entzündet sich an der vorjährigen Wahl des Vorsitzenden der Zionistischen Weltorganisation und der Jewish Agency. Damals hatte das sogenannte Zustimmungskomitee, ein Forum der Mäzene, Natan Scharansky nicht zur Wahl zugelassen. Der Ex-Diasporaminister hatte sich beim damaligen Ministerpräsidenten Ariel Scharon durch seinen Widerstand gegen die Räumung des Gasastreifens unbeliebt gemacht. So ließ ihn der Premier bereits im Vorstadium scheitern. Ein junger israelischer Delegierter, der namentlich nicht genannt werden möchte, schäumt noch heute: »Ich stimme mit Scharansky politisch keineswegs überein. Aber es geht nicht, daß einige Millionäre einen Mann, der sich wie kaum ein anderer um den Zionismus verdient gemacht hat, einfach von der Wahl ausschließen.« Auch Connie Kreshtool mahnt Reformen an: »Ich glaube, daß Zionismus am Kreuzweg steht. Wenn er sich nicht wandeln kann, droht ihm der Untergang.«
Rabbiner Blau ist ebenfalls für Veränderung, weiß aber, daß diese nicht leicht sein wird. »Nehmen wir die Frage der Großspender. Ich bin dafür, ihren Einfluß einzudämmen, doch die Vorstellung, man könne sie ganz außen vorlassen, ist naiv. In der heutigen Philanthropie wollen die Spender darüber mitbestimmen, was mit ihrem Geld geschieht.« Blau setzt eher auf Verhandlun-
gen hinter den Kulissen und hofft, daß die Akteure in den kommenden Monaten eine Lösung finden: »Wenn alles gut geht, kann der Exekutivrat im kommenden Februar eine tragfähige Reform beschließen.«