Gleis 17

Generation Gedenken

von Helmut Kuhn

Was wissen Jugendliche heute über den Holocaust? Wie gehen sie mit dem Gedenken daran um? Vielleicht sprach Jaqueline Dürre weniger den Jugendlichen aus der Seele, als vielmehr den Älteren und jenen, die ihre engsten Verwandten und Freunde verloren oder die Schoa selbst überlebt haben: »Menschen sind erst tot, wenn sie vergessen sind. Wir wollen uns an diese Toten erinnern«, sagte die Schülerin des Charlottenburger Gottfried-Keller-Gymnasiums vor rund 500 Teilnehmern des Gedenkens am vergangenen Donnerstag, dem 9. November.
Sie erinnerten an die rund 55.000 jüdischen Berliner, die von den Nazis verschleppt und von hier aus, von Gleis 17 des ehemaligen Güterbahnhofs Grunewald, in die Todeslager gebracht wurden – wie die Eltern und Geschwister von Isaak Behar, der 64 Jahre später am Ende der Trauerfeier vor der Gedenkstätte das Kaddisch spricht. Eine Schülerin ist es auch, die den deutschen Text des Trauerliedes »El Male Rachamim« vorliest, das Kantor Simon Zkorenblut anschließend singt.
Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938: Zum 21. Mal organisieren Berliner Schülerinnen und Schüler den Schweigemarsch vom Rathenau-Gedenkstein in der Königsallee bis zum S-Bahnhof Grunewald. In diesem Jahr sind es Schüler der Hugo-Gaudig-Realschule und des Gottfried-Keller-Gymnasiums zusammen mit der Landespolizeischule.
Auch das hat Tradition. Doch gerät die Zeremonie des Gedenkens an die Toten unversehens zur Mahnung an die Lebenden: »Es sind gerade die jungen Leute, die hier ein Zeichen setzen«, sagt Bildungsstaatssekretär Thomas Härtel. Es sei ein Zeichen »gegen Fremdenfeindlichkeit und dumpfen Haß«. Und Polizeipräsident Dieter Glietsch verweist auf eine dieser Tage veröffentlichte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, der zufolge Rechtsextremismus und Antisemitismus in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen sind. »Das darf man nicht einfach hinnehmen als eine Art geistige Umweltverschmutzung. Vor einer Woche erst mußte ein jüdisches Mädchen mit Polizeischutz in die Schule gebracht werden, damit es nicht beschimpft oder geschlagen wird. Das ist beschämend.« Schnell wird klar: Es geht hier nicht nur um das Gestern, es geht auch um heute.
»Prävention ist unsere dringlichste Arbeit, und die Schulen sind unsere wichtigsten Partner«, sagt Glietsch. Das bestätigt die Polizeianwärterin Susan Krüger, 21: »Vorbeugung ist Teil unserer Ausbildung, den wir sehr ernst und genau nehmen.« Mit diesem Schweigemarsch habe sie teilhaben wollen »an der Trauer der Überlebenden, die ihre Verwandten verloren haben«.
Als sich die Veranstaltung nach dem Kaddisch in aller Stille auflöst, stellen sechs junge Schülerinnen aus Charlottenburg ihre mitgebrachten Kerzen am Mahnmal ab. »Mich hat das sehr berührt«, sagt Mina Siebert, 16. Und dann ärgert sie sich: »Manche Jungen in unserer Schule machen sich über den Holocaust lustig, obwohl wir seit zwei Jahren im Geschichtsunterricht darüber sprechen. Sie zeigen den Hitlergruß und lachen, weil sie einfach keine Ahnung haben«. Plötzlich sind sich die Freundinnen aus der 10. Klasse einig: Der Polizeipräsident hat recht. »Dagegen müssen wir etwas tun.«
Nur etwa eine halbe Stunde später beginnt im Jüdischen Gemeindehaus an der Fasanenstraße das Gedenken am 68. Jahrestag der Novemberpogrome. Dazu begrüßt Gemeindechef Gideon Joffe eine Vielzahl von Ehrengästen: unter ihnen Bürgergermeisterin Karin Schubert, Ilan Mor, der Geschäftsträger der Israelischen Botschaft, Ruth Galinski, die Witwe des ehemaligen Gemeindevorsitzenden Heinz Galinski, und der Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner. Und auch bei dieser Feier sind es Jugendliche, die das Gedenken gestalten.
Sie erinnern an 91 in dieser Nacht ermordete Menschen, 26.000 Verschleppte, 250 zerstörte Tempel und 7.500 Geschäfte. Sie erinnern an den »Auftakt zu Auschwitz«, wie es der Vizepräsident des Berliner Abgeordnetenhauses, Uwe Lehmann-Brauns in seiner Ansprache formuliert. In neun szenischen Lesungen bringen Schüler der Jüdischen Oberschule den Gästen die Geschehnisse nahe. In wechselnden Auftritten verweben und verdichten Tristan Dameron, Benjamin Fischer, Jacob Friedländer, Tea Kolbe, Denis Kulikov, Tair Lewin, Adrian Mackott und Josephine Welsch Szenen der mörderischen Orgie mit Texten aus Originaldokumenten und historischen Zusammenhängen.
Man hört Antisemitisches von deutschen Denkern wie Martin Luther und Immanuel Kant. Man hört Auszüge eines Briefes eines polnischen Juden an seine Mutter, man hört die Perversion der Nürnberger »Rassengesetze«, bis man förmlich die Schreie und das Feuer vernimmt und Heinz Galinski sagen hört: »Ich stand vor der brennenden Synagoge und mußte mit ansehen, wie Menschen ermordet wurden – da brach zum erstenmal eine Welt in mir zusammen.«
Man hört Leo Baeck: »Die Tausendjährige Geschichte des deutschen Judentums ist zu Ende.« Man hört, wie der Berliner Polizist Wilhelm Krützfeld die völlige Zerstörung der Synagoge in der Oranienburger Straße im Alleingang verhindert und später vielen Juden zur Flucht verhilft – »ein ganz normaler Held«. Und dazwischen hört man die Schreie und die Flam-
men und die Rufe wieder in den Liedern von Mordechai Gebirtig und Jizchak Katzenelson, klar und einfühlsam vorgetragen von Romina Sizerman, Raffaela Wais und Boris Rosenthal. Zum Schluß berichtet Zeitzeugin Inge Borck von ihren Erinnerungen an dieses »barbarische Fanal«. Ihre Familie und ihre Freunde sind in der Schoa umgekommen. »Die Erinnerung«, so sagt sie, »wird uns helfen.«
Es wird klar: Es geht nicht nur um gestern, sondern auch um heute, um Rechtsradikalismus in der Mitte der Gesellschaft, um das Zeigen des Hitlergrußes in den Schulen, um ein Verbot der NPD. Aber auch darum, das Gedenken an eine neue Generation weiterzugeben.
»Es war eine große Ehre für uns, dies an diesem Tag vorzutragen«, sagt Benjamin Fischer von der Jüdischen Oberschule nach der Gedenkfeier. »Wir wollten keinen Applaus erheischen, sondern eine be-
stimmte Stimmung erzeugen«, sagt sein Klassenkamerad Adrian Mackott.
»Es geht darum, die Gemeinde an einem aktiven Gedenken zu beteiligen. Und ich wollte ein Beispiel geben, wie man das machen kann«, sagt Gideon Joffe. Er hat die szenischen Lesungen geschrieben. Denn »passives Gedenken führt zur Lethargie«, mahnt der Gemeindechef.

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