von Rabbiner Jay Kelman
Allzu oft (und einmal ist schon zu oft) hö-
ren wir auch von gläubigen Juden, die in Straftaten im Bereich der Wirtschaftskriminalität verwickelt sind: Steuerhinterziehung, Geldwäsche, Veruntreuung und Betrug. In einer Zeit, in der größere Strenge in vielen rituellen Bereichen zur Norm wird, scheint Nachsicht die Norm zu sein, wenn es ums Geld geht. Warum ist das so?
Für einige wurzelt das Phänomen im Kulturellen. Viele Menschen stammen aus Gegenden, wo Juden gesetzlich und tatsächlich diskriminiert wurden. Als Ausgleich für die ungerechten Ausgangsbedingungen, heißt es, mussten sich Juden aufs Betrügen verlegen. Diese Einstellung wurde mit herübergenommen in die Demokratie. Immer noch kann man die unwahre Behauptung hören, dass man die Gojim betrügen darf.
Damit will ich nicht sagen, dass unser Verhalten in diesem sensiblen Bereich schlimmer ist als das irgendeiner anderen Gruppe. Dennoch genügt ein oberflächli-
cher Blick auf unsere herrschenden Ge-
schäftspraktiken, um festzustellen, dass es ein ernsthaftes Problem gibt.
Das Judentum setzt Schweigen mit Dulden gleich. Menschen, die ein Problem an-
sprechen könnten und es nicht tun, sind in den Augen des Ewigen genauso schuldig. In diesem Sinne will ich einige persönliche Beobachtungen niederschreiben, die auf meinen Erfahrungen als amtlich zugelassener Wirtschaftsprüfer und Rabbiner und auf Diskussionen mit Freunden und Kollegen basieren.
Wir alle wurden mit einer natürlichen Liebe zu materiellem Besitz geboren. Das hat viele positive Seiten; ohne den Wunsch, Geld zu machen, würden die Menschen aufhören, aufzubauen, wodurch die Gesellschaft als Ganzes ärmer würde. Doch unsere Neigung nach mehr und mehr führt uns oft auch in die Irre. Der Talmud erklärt, dass alle irgendwann mal sündigen, wenn Geld im Spiel ist. Erschwert wird das Problem durch die Tatsache, dass ein sinnvolles jüdisches Leben zu führen nicht billig ist, was die Versuchung noch vergrößert. Zudem ist es leicht, damit durchzukommen. Angesichts der Kombination von (vermeintlichem) Bedürfnis, Gier und leichtem Zugang ist es schwer, standhaft zu bleiben.
Allerdings führt das Problem über den persönlichen Wunsch nach mehr Geld hinaus. Unsere Gesellschaft idealisiert den materiellen Erfolg. Auch Menschen, die das Geld nicht brauchen, um über die Runden zu kommen, werden häufig zu einer Gaunerei verleitet. Selbst unsere religiösen Institutionen tragen zu diesem Problem bei, wenn auch unbeabsichtigt. Wann ha-
ben Sie das letzte Mal erlebt, dass ein Lehrer auf einem Dinner geehrt wurde? Wie viele Gebäude werden nach sozial engagierten Menschen benannt, die ihr Leben der Aufgabe weihten, Juden in Not zu helfen? Ich verstehe die Notwendigkeit, Sponsoren zu ehren, aber wie viele Organisationen machen sich Gedanken über den geschäftlichen Leumund des Geehrten? Während viele Institutionen davon Abstand nehmen, Menschen zu ehren, die gegen rituelle Gebote verstoßen, kommt es selten vor, dass der gleiche Maßstab an ethische Normen angelegt wird. In der Folge werden Menschen, die in diesem wichtigen Bereich eines jüdischen Lebens nachlässig sind, gesellschaftlich nicht verfemt. Im Gegenteil: So weit verbreitet und akzeptiert ist ein solches Verhalten, dass diejenigen, die auch hier den ethischen Normen der Tora genügen, als naive Ein-
faltspinsel belächelt werden. Hat eine Gesellschaft einmal eine Norm angenommen, ist es mühsam, sie zu ändern. Denn wenn alle es tun, kann es doch nicht wirklich falsch sein, oder?
Wir leben in einer Gesellschaft, die zwischen privatem Tun und öffentlichem Leben unterscheidet, eine Unterscheidung, die dem Judentum in vielerlei Hinsicht fremd ist. Doch ihre Auswirkungen innerhalb der jüdischen Welt sind unverkennbar. Ein großer Teil der wachsenden Frömmigkeit, die wir Gott sei Dank beobachten können, konzentriert sich auf Bereiche, die äußerlich und für andere sichtbar sind. Das Geschäftliche findet fern unserer religiösen Umgebung statt, und nur wenige unserer jüdischen Brüder haben eine Ahnung, nach welchen Standards wir uns im Geschäftsleben richten. Also gibt es keine religiöse Regel, die man befolgen muss.
Eine weitere Unterscheidung, die die Menschen fälschlicherweise treffen, ist die zwischen rituellen und ethischen Geboten. Wir spalten unsere Leben in einen religiösen und einen säkularen Teil. Leider wird dann der Geschäftsbereich dem säkularen Teil zugerechnet, abgetrennt von religiösen Normen. Wir sind gescheitert an der Aufgabe, all unsere Aktivitäten in einen religiösen Rahmen zu integrieren
Die grundlegende Vorstellung, dass das Judentum nichts als rein säkular betrachtet, dass es lediglich unterschiedliche Ebenen von Heiligkeit gibt, wurde missachtet. Für viele ist Ethik einfach keine jüdische Angelegenheit; schließlich gibt es (scheinbar) nichts, was daran besonders jüdisch wäre. In einer Zeit, in der Religiosität oft durch die Anzahl kultureller Barrieren, die aufgestellt werden, definiert wird, dominiert die Neigung, jene Bereiche, die wir mit anderen Gruppierungen bis zu einem gewissen Grad gemeinsam haben, zu vernachlässigen.
Die Tatsache, dass unsere Rabbiner sehr selten über dieses Thema sprechen, unterstützt die Vorstellung, Geschäftsethik sei keine religiöse Frage. Nach dem Krieg, als das jüdische Leben daniederlag, war es vielleicht verständlich, dass alle religiösen Kräfte sich auf Kaschrut, Schabbat, Mikwaot und jüdische Erziehung vereinten. Vielleicht glaubten die Rabbiner naiverweise, die Ethik würde einem Juden von selbst zufallen. Es war unvorstellbar, dass ein Jude wirtschaftlichen Gewinn opfert, um den Schabbat einzuhalten und so seinen Glauben an den Schöpfer zu zeigen, während er gleichzeitig unter Beweis stellt, wie wenig er auf die Fähigkeit Gottes, wirtschaftlich für uns zu sorgen, vertraut. Aus diesem Grund lautet die erste Frage, die Gott uns nach 120 Jahren stellt, Nasata wnatata b’emunah – hast du in geschäftlichen Dingen stets ehrlich gehandelt? Der Ausdruck beinhaltet mehr als Ehrlichkeit in Geschäftsangelegenheiten; gefragt wird, ob wir unsere Geschäfte immer im Glauben an Gott als unseren obersten Ernährer ausgeführt haben.
Doch selbst wenn Rabbiner das Thema aufgreifen, werden sie vielfach ignoriert. Allgemein herrscht die Auffassung, die rabbinische Führung verstehe eh nichts von der Geschäftswelt, sie lebe in einem Elfenbeinturm, abgehoben von der wirklichen Welt.
Um es ganz deutlich zu sagen: Ein Jude, dem es an ethischen Grundsätzen mangelt, ist – ganz gleich wie peinlich genau er in seinem Umgang mit Gott ist, kein religiöser Jude. Es ist Zeit, dieser Frage höchste Priorität einzuräumen. Wir müssen die grundlegenden jüdischen Werte Ehrlichkeit, Of-
fenheit und Integrität in allen unseren Handlungen lehren und neu lehren. Zu unserem reichen Erbe gehören Überlegungen wie: Die Sintflut geschah aufgrund der Sünde des Stehlens; die erste Frage, die Gott uns stellen wird, lautet, ob wir un-
sere Geschäfte stets ehrlich gehandhabt haben; dass es ein biblisches Gebot ist, den bürgerlichen Gesetzen des Landes, das wir bewohnen, zu gehorchen; dass Raub schwerwiegender ist als Ehebruch (Baba Batra 88 b); dass Gott soziale Sünden verabscheut, Götzendienst aber unter Um-
ständen zu dulden bereit ist (siehe Kommentar von Meshech Chochmah zum 2. Buch Moses 14,24).
Wir müssen herausstellen, dass unsere Propheten uns immer wieder verkündeten, ohne soziale Ethik wolle Gott unsere Opfer nicht, ja verachte sie (Jesaja 1). Und wir wissen alle, dass das Gebet an die Stelle des Opfers getreten ist.
Wir dürfen nicht zulassen, dass diejenigen, deren Geschäftspraktiken den Geboten der Tora nicht genügen, als Vorbilder hingestellt werden. Wir müssen sicherstellen, dass wir all unsere Handlungen in einer Weise ausführen, die zu Kiddusch Haschem führt. Wir müssen weiter arbeiten, bis Menschen innehalten und sagen: Was für eine herrliche Tora hat doch das jüdische Volk, schau die Ehrlichkeit und Integrität derer, die nach ihr leben.
Der Autor ist Gründungsdirektor der kanadisch-jüdischen Organisation »Torah in Motion«. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Business Ethics Centers, Jerusalem.
www.jewishethicist.com