von Jonathan Scheiner
Gerade erst hat das Restaurant der Deutschen Oper die Türen geöffnet, da rauscht Juan Lucas Aisemberg schon herein, wünscht kurz »Guten Morgen« und zieht die Kopie einer Schiffsfahrkarte aus der Manteltasche. Während er sich des roten Schals entledigt, bestellt er Kaffee und erzählt, wer die Personen auf dem Schiffsticket sind: Aaron, Israel, Moises und Abraham – Aisembergs Vorfahren. Sie stam- men alle aus Odessa.
1906 hatten die Ururgroßeltern Jankel und Rachel die achtköpfige Familie dritter Klasse in Genua eingeschifft, um in Buenos Aires von Bord zu gehen. Wie so viele Juden, erzählt Juan Lucas, war die Familie aus Bessarabien vor Armut und Pogromen geflüchtet, um in Argentinien eine neue Existenz aufzubauen. In dieser Zeit ist Buenos Aires zu einer der weltweit größten jüdischen Gemeinden herangewachsen. Und auch im Norden Argentiniens, in der Provinz Misiónes zum Beispiel, sind große Kolonien entstanden, die von jüdischen Gauchos besiedelt wurden. Es sei also einleuchtend, sagt Juan Lucas Aisemberg, dass nicht nur der Tango aus Buenos Aires, sondern auch argentinische Folklore wie Chamamé jüdische Einflüsse aufweist. Aisemberg hat inzwischen den zweiten Kaffee bestellt.
Juan Lucas Aisemberg ist Orchestermusiker. Er spielt Geige an der Deutschen Oper in Berlin. Doch das ist nur ein Teil von ihm. Denn das Tango-Virus hat von ihm Besitz ergriffen. Oder, wie es in Fachkreisen heißt, er ist ein Aficionado. Und er ist in Berlin wahrlich nicht der einzige. Kein Abend vergeht, an dem der Tango-Süchtige nicht in einer Milonga oder einem Ballsaal tanzen kann. Und nicht nur Tänzer kommen auf ihre Kosten. In Berlin leben hervorragende Tango-Musiker. Und einer von ihnen ist Juan Lucas Aisemberg. Doch wie geht das zusammen: Einerseits die disziplinierte Arbeit im Orchester, andererseits die Leidenschaftlichkeit und Sinnlichkeit des Tango? »Ich bin erst spät zum Tango gekommen, obwohl meine Familie aus Buenos Aires kommt, wo man diese Musik quasi in die Wiege gelegt bekommt. Mein Vater, ein Konzert-Pianist, spielte bei seinen Konzerten als einer der ersten Musiker überhaupt neben Mozart oder Brahms immer auch ein paar Tangos. Vielleicht hat mich das geprägt.« Zur damaligen Zeit, als Astor Piazzolla, der Gründervater des Tango Nuevo, noch nicht in aller Munde war, sei das eine kleine Revolution gewesen. Und dann erzählt Juan Lucas, dass sein Bett unter einem Konzertflügel postiert wurde, als die Familie in den 60er Jahren nach Budapest zog. Dort ist der Geiger 1967 zur Welt gekommen. Später siedelte die Familie nach Italien über, und 1985, nachdem die sich abwechselnden Militärjuntas entmachtet worden waren, zog Juan Lucas nach Argentinien.
Geige gelernt hat Juan Lucas Aisemberg an der »International Menuhin Music Academy« im Schweizerischen Gstaad bei Alberto Lysy und an der Hochschule der Künste in Berlin bei Bruno Giuranna. In Berlin ist der Geiger hängen geblieben, dort lebt er mit seiner Frau, der Pianistin Tuyet Pham. Seine Liebe zum Tango hat Juan Lucas erst viel später entdeckt, denn in Argentinien werden klassische Musik und Folklore strikt voneinander getrennt. »Irgendetwas hat mir als klassisch ausgebildeter Geiger immer gefehlt«, sagt Juan Lucas Aisemberg. Aber ich wusste nie genau, was es ist. Beim Tango musst du improvisieren. Gerade klassische Musiker tun sich schwer damit. Sie sind es nicht gewohnt, auch nur eine einzige Note zu erfinden. Deshalb habe ich irgendwann neben meiner Arbeit als Konzert-Geiger damit angefangen, Unterricht in Improvisation zu nehmen.«
Obwohl das Herz von Juan Lucas Aisemberg längst im Wiegeschritt des Tango schlägt, hat er den Beruf des Konzertgeigers nicht an den Nagel gehängt. Dabei gibt es inzwischen eine Reihe von Tango-Alben, bei denen der Geiger mitgewirkt hat. Allein mit seinem Vater Hugo Aisemberg hat er vier CDs eingespielt. Aisembergs jüdische Seite, von der er glaubt, dass sie nicht einmal an jüdischen Feiertagen wirklich zutage tritt, spiegelt sich vor allem beim Projekt »Tangele«. Das Trio um die Sängerin Lloica Czackis und den Pianisten Gustavo Beytelmann (der auch das berühmte Gotan Project mitbegründet hat) spielt jiddische Tangos aus den 30er und 40er Jahren. Und dann gibt es da noch das Sextett »6 Australes«, das Tangos und argentinische Folklore zusammenbringt. Das grandiose Debütalbum ist schon fast vollendet. Juan Lucas will, dass die CD spätestens im Februar zum Konzert im Kammermusiksaal der Philharmonie in Berlin auf den Markt kommt. Wer bis dahin nicht warten kann, um Juan Lucas Aisemberg an der Geige zu hören, der findet ihn wie gewohnt im Orchestergraben der Deutschen Oper. Dort geht er seiner normalen Arbeit nach.
Das nächste Konzert von Juan Lucas Aisemberg findet am 23. Februar im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie statt.