von Peter Bollag
Es ist der wohl wichtigste Augenblick der jüngeren jüdischen Geschichte: am Freitag, 14. Mai 1948, pünktlich um 16 Uhr, erhebt sich der bisherige Vorsitzende des Exekutivkomitees der Jewish Agency, David Ben-Gurion. Er klopft mit einem kleinen, braunen Hammer auf den Tisch und sofort herrscht gespannte Ruhe unter den Anwesenden im Kunstmuseum am Rothschild Boulevard in Tel Aviv. In diesem auch von außen sehr unscheinbaren Gebäude sind etwa 240 Menschen versammelt, um der feierlichen Zeremonie der Unabhängigkeitserklärung des jüdischen Staates beizuwohnen. Unter ihnen ist auch Rudi Weissenstein, weder Politiker noch Funktionär der jüdischen Elite, sondern Fotograf und als solcher schon längst eine Berühmtheit im Jischuw, der jüdischen Bevölkerungsgruppe in Palästina.
Man hatte ihm bloß gesagt, er solle sich »gut angezogen«, also mit Hemd und Jacke, am Freitagnachmittag am Rothschild Boulevard einfinden und natürlich seine Ka-
mera mitbringen, erinnert sich Myriam Weissenstein, die Witwe des 1992 verstorbenen Fotografen. Und er dürfe auf keinen Fall mit irgendjemandem über die ganze Sache sprechen. Entsprechend erging die geheimnisvolle Einladung auch erst kurz vor dem Ereignis an Rudi Weissenstein und ausdrücklich nicht auch an seine Frau. Die engen Platzverhältnisse gestatteten keinerlei Höflichkeitsgesten.
Entsprechend nervös sei ihr Rudi, sonst ein ausgeglichener Mensch, vor dem Termin gewesen, berichtet Myriam Weissenstein, die damals von ihrem Mann doch eingeweiht wurde, obwohl alles unter dem Siegel der Verschwiegenheit ablief. Die Ge-
heimnistuerei hatte ihren Grund: die Gründerväter des jüdischen Staates fürchteten, dass die britischen Kolonialbehörden von den konkreten Plänen ebenso Wind bekämen wie die arabischen Staaten, die buchstäblich bereits Gewehr bei Fuß standen.
Rudi Weissenstein war allerdings nicht der einzige Fotograf, der den historischen Moment auf Papier bannte. Neben Re-
portern der Wochenschau waren unter anderem auch Weissensteins Berufskollegen Beno Rothenberg, Schlomo Kedar, Hans Pinn und – vor allem – der weltberühmte Robert Capa anwesend. Doch während Capas Bilder von der Ausrufung des Staates Israel vor allem durch tanzende und singende Menschen vor dem Museum in Erinnerung geblieben sind, schießt Weissenstein das Bild, welches bis heute im Zusammenhang mit der Gründung Israels im historischen Gedächtnis der Welt gespeichert ist: Es zeigt Ben-Gurion, einmal mit Anzug und Krawatte, der unter dem Bild des bärtigen Theodor Herzl und neben einer Fahne mit dem Davidstern das wichtige Dokument verliest, umrahmt von würdig gekleideten Männern. Insgesamt macht Rudi Weissenstein etwa 30 Bilder, die er wegen des herannahenden Schabbats zum Teil erst später in seinem Labor entwickelt.
Es fehlt dann allerdings ein Foto vom feierlichen Moment am Schluss der Veranstaltung, als sich die 25 Mitglieder des Na-
tionalrates und der nationalen Administration erheben, um die Hatikwa, die eben neugewählte Nationalhymne des das Licht der Welt erblickenden jüdischen Staates zu singen. Da habe der Zionist über den Fotografen gesiegt, berichtet Myriam Weissenstein 60 Jahre danach: Ihr Mann habe in jenem Moment einfach seine Kamera, von der er sich sonst kaum trennte, zur Seite gelegt und ebenfalls lauthals mitgesungen.
Dass Weissenstein überhaupt mit dabei sein konnte, ist aus heutiger Sicht keine Selbstverständlichkeit: Er hielt sich in seinen Arbeiten nämlich weitgehend von der Politik fern – die Zeremonie im Kunstmuseum war eine der ganz wenigen politischen Veranstaltungen, an denen er als Fotograf teilnahm. Er wollte eher der neutrale Chronist des sich entwickelnden Staates sein, so lichtete er immer wieder Landschaften ab, Gräber jüdischer Gelehrter, aber auch Gebäude, Straßen und Flüsse. Doch vor allem und immer wieder Menschen. Meist unbekannte Bewohnerinnen und Bewohner Palästinas beziehungsweise Israels – Juden, aber auch Araber, Beduinen, Drusen und viele andere Menschen des Heiligen Landes, für die er sich ein Leben lang interessiert.
1910 als Simon Rudolph Weissenstein im böhmischen Jilhava (Iglau) geboren, absolvierte Weissenstein die Kunsthochschule in Wien, um sich bereits in der Mitte der 30er-Jahre in Palästina anzusiedeln. Sein Vater, ein wohlhabender Fabri-
kant, habe ihm eigentlich ein Hotel in der Schweiz kaufen wollen. Doch Rudi er-
kannte damals schon, dass seine Zukunft nicht in einem Europa liegen werde, in welchem Juden gejagt und ermordet werden würden. Deshalb wählte er statt der Schweizer Berge das eher unsichere Gebiet am östlichen Mittelmeer als sein Zuhause. Zusammen mit Myriam, 1913 unter dem Namen Margarete Arnstein in einer Prager Vorstadt geboren und bereits als Achtjährige mit ihren Eltern in Palästina eingewandert, bereist Weissenstein gleich nach seiner Ankunft 1936 das britische Mandatsgebiet – von Galiläa im Norden bis tief in die Negev-Wüste im Süden. Und immer ist seine Kamera – neben seiner Freundin – seine ständige Begleiterin. Oft habe man die Foto-Ausrüstung sogar auf Kamelen transportiert, erinnert sich Myriam Weissenstein. Das Paar hatte sich übrigens in Tel Aviv kennengelernt und heiratet 1939.
Sofort danach beginnen sie unter dem Namen »Pri-Or« ein umfangreiches Foto-Archiv aufzubauen, welches sie in ihr 1940 eröffnetes Fotogeschäft an der Allenbystraße, direkt neben dem berühmten Mugrabi-Kino, integrieren.
Hier öffnet Myriam Weissenstein, mittlerweile 95 Jahre alt, noch heute jeden Morgen pünktlich ihren Laden. Weil es auch im digitalen Zeitalter der Handykameras noch immer Menschen gibt, die in ein Fotogeschäft kommen, um sich ablichten zu lassen. So wie das bis weit in die achtziger Jahre auch noch viele der wichtigsten israelischen Politiker taten: »Es kursierte sogar der Satz: ›Wer sich während einer Wahlkampagne von Weissenstein fotografieren lässt und dann bei uns im Schaufenster hängt, gewinnt die Wahlen ganz sicher!‹«, erinnert sich Myriam Weissenstein lächelnd und erzählt gleich die nächste Anekdote – in Deutsch, Englisch, Hebräisch oder auf Wunsch auch in Tschechisch. Worauf sie den Besucher noch bittet, sich in die bereitliegende Unterschriftenliste einzutragen. Myriam Weissenstein will zusammen mit anderen im Quartier verhindern, dass ihr Fotogeschäft, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint, abgerissen wird und einem Neubau Platz machen soll. Die Aktion richtet sich vor allem an Tel Avivs Bürgermeister Ron Chuldai: »Bei der Vernissage einer Ausstellung mit Bildern meines Mannes kam er und umarmte mich vor aller Augen – und jetzt möchte er mich offenbar hier rausschmeißen!«, empört sich die resolute Frau, die nicht nur in diesem Moment fast jugendlich wirkt.