Der Himmel über Berlin ist an diesem Donnerstag vormittag eine einzige graue Suppe: Unablässig strömt der Regen in Bindfäden nieder, beult in immer größer werdenden Lachen die Markisen aus und bildet kleine Sturzbäche entlang der Bordsteine. Das schlechte Wetter vertreibt die Menschen von den Straßen. Nur vor einer unscheinbaren Tür in einer Seitenstraße des Savignyplatzes hat sich eine lange Schlange gebildet, stoisch harren die Wartenden aus.
Sie stehen für die Armenspeisung der Synagoge »Lev Tov« an. Einmal die Woche werden hier unter dem Titel »Schulchan Aruch« (hebr.: gedeckter Tisch) koschere Lebensmittel an Bedürftige ausgegeben. Die Idee dafür hatte der ehemalige Ge-
meinderabbiner Chaim Rozwaski. »Während meiner elf Jahre in Berlin habe ich mit vielen Menschen zusammengearbeitet, gesehen, wie es ihnen geht – und es geht ihnen immer schlechter«, so Rozwaski über seine Motivation. Dann kam 2008 nach einem Streit mit der Gemeinde und seiner Entlassung die Gründung der Synagoge »Lev Tov« – und der Rabbiner wollte sich nun auch um die »körperlichen Bedürf- nisse« der Menschen kümmern, wie er sagt. Schnell war die Idee für die »Jüdische Tafel« geboren, Ende Juni dieses Jahres fand die erste Lebensmittelausgabe statt. Anfangs kam gerade einmal eine Handvoll Bedürftige, nun sind es bereits 120, die je-
de Woche für eine Tüte mit Milch, frischem Obst und Gemüse, koscherem Fleisch, frisch gebackenen Challot und Süßigkeiten für die Kinder anstehen. Daneben gibt es für jeden einen Teller heiße Suppe.
An der langen blauen Tafel hat zum Bei-spiel Heinz Platz genommen. Der 57-Jährige kommt jede Woche mit seiner Freundin Petra. Die beiden mögen die freundliche Atmosphäre in der Synagoge. »Ich bin ei-
gentlich weniger wegen der Essensausgabe als vielmehr wegen der neuen Bekanntschaften hier«, betont er. Vor allem aber gehe es ihm darum, mehr über das Judentum zu erfahren – Heinz ist Katholik.
Etwa jeder Zehnte, der sich jeden Donnerstag vor der Synagoge anstellt, ist kein Jude, so die Schätzungen von Chaim Rozwaski. Ein Problem ist das für ihn nicht – auch wenn koschere Lebensmittel teuer sind, alles wird aus Spenden finanziert. »Da immer mehr Menschen kommen, su-
chen wir dringend nach Spendern«, berichtet der Rabbiner, vor allem Obst- und Ge-
müsespenden würden benötigt.
Leicht falle der Schritt zu »Schulchan
Aruch« den meisten am Anfang nicht, sagt Rozwaski. »Die Leute schämen sich – doch Not ist ein strenger Lehrer und kennt keinen Stolz.« Auch, wenn er sich gemeinsam mit Organisator Siegfried Jarosch um eine fröhliche Atmosphäre bemüht, herrscht eine eher gedrückte Stimmung, viele Besucher schauen nicht von ihrer dampfenden Suppe auf. So wie die ältere Dame mit dem schwarz gefärbten Lockenschopf, die nur leise spricht. Ihren Namen wolle sie nicht nennen, es sei ihr unangenehm. Sie verrät nur, dass sie urspünglich aus Russland komme und 64 sei. »Das Geld für meinen Mann und mich ist zu knapp, da sind die kostenlosen Lebensmittel hier eine große Hilfe«, flüstert sie. Dann setzt sie noch hinzu, dass sie immer allein komme: »Meinem Mann ist das zu peinlich.«
»Die meisten Menschen tun sich schwer, Hilfe anzunehmen«, fasst Siegfried Jarosch zusammen. Rozwaski ergänzt: »Wir behandeln jeden mit Respekt, ohne Fragen zu stellen.« Niemand müsse seine Bedürftigkeit beweisen, etwa durch einen Hartz-IV- oder Sozialhilfe-Bescheid. Diese fehlende Prüfung ist ein Grund dafür, dass die Synagoge ihre Initiative nicht »Jüdische Tafel« nennen darf, wie sie es anfangs plante – denn der »Tafel«-Begriff der gleichnamigen bundesweiten Hilfsbewegung ist geschützt. Benutzen darf ihn nur, wer sich an die Leitlinien hält. Dazu gehört, dass die ausgegebenen Lebensmittel überschüssig sind, also etwa von Restaurants oder Supermärkten stammen müssen. Die Lebensmittel für die koschere Essensausgabe werden aber zu großen Teilen gekauft.
Für den älteren Herren mit Schiebermütze und zerfurchtem Gesicht ist es wahrscheinlich egal, ob er sich nun an eine »Jüdische Tafel« oder den »Schulchan Aruch« setzt – er ist einfach froh, dass es die koschere Essensausgabe gibt. Auch er will seinen Namen nicht verraten: »Es muss ja nicht jeder wissen, wie schlecht es mir geht«, grinst er. Trotz der schwierigen Situation, in der sich die meisten hier be-
fänden, sei die Stimmung nicht depressiv. »Dafür sorgt schon der Rabbi«, sagt der Mann und lacht. Außerdem packe jeder mit an – ein Umstand, den auch Siegfried Jarosch lobt: »Unsere Helfer, die die Tüten packen, sauber machen und was sonst eben zu tun ist, sind Leute, die vorher selbst in der Schlange standen.« Insgesamt würden jeden Donnerstag über ein Dutzend Menschen »beim Helfen helfen«. Eine Aufgabe ist es etwa, aufzupassen, dass auf der Wendeltreppe, die von der Tür hinunter zur Essensausgabe und der Gulaschkanone führt, nicht zu viel Gedränge herrscht. Und voll ist es während der zwei Stunden dauernden Ausgabe die ganze Zeit. »Früher standen die Menschen schon eine halbe Stunde, bevor wir aufgemacht haben, vor der Tür«, sagt Jarosch. »Wir mussten ein Schild aufhängen, dass wir nicht früher öffnen, damit da nicht über 100 Menschen bei Regen und Schnee warten.«
Ohne bestimmte Regeln funktioniere der »Schulchan Aruch« nicht – ebenso wenig, wie ohne eine gewisse Sicherheit für die Bedürftigen. Sie müssten wissen, dass sie immer etwas bekämen – auch wenn sie sich nicht schon eine halbe Stunde vor Beginn anstellten. »Wenn irgend etwas zu Neige geht, organisieren wir schnell Nachschub«, versichert Jarosch. Es sei überhaupt nur einmal vorgekommen, dass ihnen etwas ausgegangen sei, erinnert er sich. »Da haben wir die Menschen gebeten, am Freitag wiederzukommen, und ihnen dann ein frisches Lebensmittelpaket gegeben.«
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