von Christine Schmitt
Stille. Die wenigen Anwesenden sind verstummt und verfolgen gebannt den lautlosen Dialog in der Synagoge Münstersche Straße. »Habe ich das richtig ver-
standen?«, fragt der Sohn mit den Händen noch einmal den Vater, Fred Friedman. Denn Friedman, Rabbiner aus den USA, ist gehörlos.
Zu Pessach kam er nach Berlin, um eine Sederfeier von Chabad Lubawitsch zu leiten und sie somit auch Gehörlosen aus aller Welt erlebbar zu machen. »Es war ei-
ne Herausforderung und ich war doch sehr aufgeregt«, sagt er in Gebärdensprache und schaut seinen Sohn an, der diese Worte dann in die Lautsprache übersetzt. Aber es sei eine wunderschöne Zeremonie mit etwa 30 Gehörlosen aus Italien, Schweiz, Brasilien, Mexiko und anderen Ländern und über 500 Hörenden gewesen, so der Rabbiner. Die Menschen hätten den Abend sehr genossen, ergänzt Rabbiner Yehuda Teichtal von Chabad Lubawitsch. Die Idee zu dieser besonderen Seder hatte Friedman gemeinsam mit Mark Zaurov, selbst gehörlos und Gründer der »Interessengemeinschaft Gehörloser jüdischer Abstammung in Deutschland«.
Fred Friedman wirkt gespannt und in-
teressiert. Seinen Gesprächspartner beobachtet er sehr genau. »Natürlich«, sagt Friedman, wäre sein Leben anders verlaufen, wenn er mit Gehör auf die Welt gekommen wäre. Dennoch, so der 60-Jährige, führe er auch als tauber Mensch ein zufriedenes Leben. Immerhin sei er »sehr glück-
lich seit 36 Jahren verheiratet«, habe zwei Söhne, drei Töchter und Enkelkinder. Au-
ßerdem sei er ebenfalls beruflich sehr ausgefüllt, denn er arbeitet noch in einer Bi-
bliothek, erzählt der Rabbiner.
Geboren wurde er in Wien. Sein Vater hatte die Schoa überlebt, und es hielt ihn nicht viel in seinem Heimatland Österreich. Über Umwege kam die Familie schließlich nach Baltimore/USA. Dort besuchte er eine Einrichtung für hörbehinderte Kinder und widmete sich sonntags intensiv dem jüdischen Lernen. Als er zehn Jahre alt war, wurde sein einziger Bruder geboren, der ebenfalls taub ist.
Nach seinem Schulabschluß studierte Friedman Politikwissenschaften – an einer Universität für Gehörlose. 1969 legte er sein Examen ab und begann, in einer Bibliothek zu arbeiten. Zusätzlich lernte er nahezu jeden Abend in einer Jeschiwa, wo er später als Rabbiner ordiniert wurde.
Heute leitet er für gehörlose Menschen Gottesdienste und Feiern und er unterrichtet sie. »Ich möchte auch die Menschen unterstützen, die aufgrund ihrer Behinderung wenig über ihre Religion wissen.« Denn etliche fühlten sich ausgeschlossen und kämen deshalb nur selten in die Synagogen und zu den jüdischen Gemeinschaften. Die meisten tauben Menschen fühlen sich isoliert. Auch Friedman kennt dieses Gefühl, denn wenn er keinen Gebärdendolmetscher an seiner Seite hat, sei auch er ausgeschlossen.
Die erste Sprache, die sie gelernt haben, sei die Sprache ihres Vaters gewesen, sagen sein Söhne Ari und Shimon. Erst dann lernten sie Englisch. Aber das sei nichts Besonderes für sie, sagen die Söhne, die ihn auf seiner Reise nach Berlin begleiten. Auf ihren »starken Vater« seien sie besonders stolz, meinen sie unisono.
In Deutschland sei es schwerer, als jüdischer Gehörloser zu leben, als in seiner amerikanischen Heimat, so Fred Friedman. »Das Angebot bei uns ist viel größer und es gibt viel mehr Organisationen.« Etwa 5.000 gehörlose Juden lebten in seiner Heimat, in der Bundesrepublik hingegen um die 100. Diese Sederfeier soll nur der Anfang gewesen sein, denn sie wollen in Kontakt bleibe