von Karen Naundorf
Auf der Berlinale gewann er den Preis »Bester Darsteller«, in Deutschland kennt ihn trotzdem keiner: den argentinischen Schauspieler Julio Chávez, der eigentlich Julio Hirsch heißt. Wie jeden Abend bereitete sich Julio Chávez auf seinen Auftritt im Multiteatro in Buenos Aires vor, als der Anruf aus Berlin kam: Der Silberne Bär für die beste darstellerische Leistung ging an ihn! Am Apparat war Ariel Rotter, der Regisseur des Films »El Otro«, »Der Andere«, aber zu einem Gespräch kam es nicht: »Ariel war zu gerührt, ich legte auf«, sagt Chávez, der genauso wenig wusste, was er sagen sollte. »Das ist, wie wenn dich jemand aus der Sixtinischen Kapelle anruft und sagt: Du ahnst ja nicht, wie schön das hier ist!«
Niemand hatte damit gerechnet, dass »El Otro« auf der Berlinale den Großen Preis der Jury bekommen könnte. Und dann auch noch der Silberne Bär für Julio Chávez, für seine Rolle als Geschäftsreisender, der sich entscheidet, die Identität eines Toten anzunehmen und mit dem Gedanken spielt, nicht mehr in sein eigenes Leben zurückzukehren. »Diese Auszeichnung widme ich meinem Vater, der 1921 wenige Blocks vom Potsdamer Platz geboren wurde«, lässt Chávez als Grußwort bei der Preisverleihung verlesen. Immerhin, in Gedanken sei er in Berlin dabei: Denn das Stück, das er an diesem Abend in Buenos Aires aufführe, spiele schließlich auch in Berlin, in Mahlsdorf.
Während Ariel Rotter in Berlin Wim Wenders und Gael García Bernal die Hände schüttelt, steht Julio Chávez in Buenos Aires auf der Bühne. Das Theater ist ausverkauft. Es ist ein Einpersonen-Stück, das Publikum will ihn sehen: Chávez, den sie sonst nur aus dem Kino kennen. Chávez, den pflichtbewussten Star, der am Abend der Berlinale-Gala lieber in Buenos Aires spielt, als über den roten Teppich zu laufen und seinen Preis in Empfang zu nehmen. Chávez, dessen Vater Hirsch hieß, 1937 unter den Nazis Berlin verlassen musste und nach Argentinien auswanderte.
Das Publikum im Multiteatro sitzt, und das Grammofon schweigt. Die Flügeltür öffnet sich langsam, Chávez steht im Licht der Scheinwerfer, der Schatten zeichnet seine Silhouette auf der schwarzen Wand nach. Er hängt sich eine weiße Perlenkette über den dunklen Kittel, richtet sich gerade auf, grinst. Julio Chávez spielt Lothar Berfelde alias Charlotte von Mahlsdorf, den Transvestit aus Berlin, eine Ikone der Schwulen- und Lesbenszene, bekannt für sein Gründerzeitmuseum. Kritisiert wurde Charlotte von Mahlsdorf, weil er Gegenstände anderer sammelte – unter zweifelhaften Umständen: In der Nazi-Zeit entrümpelte er als Trödelhändler die Woh- nungen deportierter Juden. Später fand er seine kleinen Schätze des Alltags in Häusern von geflüchteten oder ausgereisten DDR-Bürgern.
Eineinhalb Stunden steht Chávez alleine auf der Bühne, spricht seine Muttersprache Spanisch mit einem für das Stück antrainierten deutschen Akzent. Er fügt Einschübe auf Deutsch ein, die er selbst direkt übersetzt: »Ich bin meine eigene Frau. Yo soy mi propia mujer,« sagt Charlotte von Mahlsdorf, als ihre Mutter sie fragt, wann sie denn endlich heiraten werde.
Das Publikum belohnt Chávez mit stehenden Ovationen, bevor es durch das breite Portal des Theaters auf die Avenida Corrientes tritt, die Straße im Zentrum von Buenos Aires, die niemals schläft, auf der die Buchläden 24 Stunden geöffnet sind, die Restaurants rund um die Uhr Pizza servieren.
Als Julio Chávez mit 17 Jahren die erste Rolle in einem Spielfilm bekam, hieß er noch Hirsch. Aber er wollte seine Karriere nicht durch einen komplizierten Namen gefährden: Hirsch, das könnte niemand in Argentinien aussprechen und deshalb würden die Leute ihn schnell vergessen. Er entschied sich, den Mädchennamen seiner Mutter einzusetzen: Javes. Da aber der Regisseur des Films, Juan José Jusid, schon drei J im Namen hatte, ging auch das nicht.
Julio Hirsch entschied: Der Schauspieler Julio würde ab sofort Chávez heißen. Ganz wollte er trotzdem nicht auf den Namen seines Vaters verzichten, der Künstler Julio würde seine Zeichnungen weiter mit Hirsch unterschreiben. Lange Zeit wussten die Argentinier nicht, dass Julio Hirsch und Julio Chávez dieselbe Person sind. Damit dürfte es nach der Berlinale nun vorbei sein.