von Rabbiner Joel Berger
Die Parascha Re’eh beinhaltet die zentrale Botschaft der ethischen Lehre des Jude-seins, die Gemilut Chassadim, die Verpflichtung zur Solidarität mit unserem Nächsten. Diese Mizwa wird in Verbindung mit den Geboten der Schmitta (Erlassjahr) gelehrt: »Hüte dich, dass nicht in deinem Herzen ein arglistiger Gedanke aufsteige, dass du sprichst: Es naht das siebente Jahr, das Erlassjahr –, und dass du deinen armen Bruder nicht unfreundlich ansiehst und ihm nichts gibst …« (5. Buch Moses 15,9)
Im Erlassjahr war es untersagt, Forderungen von den Schuldnern einzutreiben, daher waren auch einige Menschen damals so engherzig, dass sie im sechsten Jahr, ein Jahr vor der Schmitta, keine hilfreichen Kredite gewähren wollten. Über die solidarische Unterstützung für die sozial Schwächeren, lernen wir in dieser Parascha zwei einander scheinbar widersprechende Toraverse: »Es sollte überhaupt kein Armer unter euch sein …« (15,4) So lautet der erste. Dagegen sagt Vers 11: »Es werden allezeit Arme sein im Lande …« Den Widerspruch kann man aber leicht erläutern. Selbst in einer Zeit der wirtschaftlichen Hochkonjunktur und des Wohlstands gibt es viele, die auf Hilfe und Beistand angewiesen sind: Alte, Kranke und Alleinstehende geben reichlich Möglichkeit zur Ausübung von Gemilut Chassadim. Dies könnten Arm und Reich gleichwohl früchtebringend ausüben. Es ist ein größerer Verdienst, wenn jemand »eigenhändig« selber die Mizwa ausübt und nicht bloß seine finanziellen Mittel für andere »arbeiten lässt«. Gemilut Chassadim kann ein jeder von uns erfüllen, denn es gibt immer schwächere, gebrechlichere Menschen, die für jede Hilfe und Zuneigung dankbar sind. Wenn man unter Ewjon nicht nur den Armen, sondern den Schwächeren, Hinfälligen versteht, dann bedeutet dies keinen Widerspruch bei den zitierten Toraversen.
Die Grundlage der Gemilut Chassadim finden wir in der Rede Moses’ an sein Volk, als er anmahnt, die sozialen Verpflichtungen stets umfassend und sensibel wahrzunehmen. Moses sagte: »Wenn sich unter Euch (...) im Laufe eurer weiteren Geschichte auch Arme befinden werden, verhärtet ihnen gegenüber nicht euer Herz, und entsage deinem bedürftigen Bruder deine helfende Hand nicht« (15, 7). Dieser und einige andere Hinweise der Tora haben, bis in unsere Zeit hinein, in allen jüdischen Gemeinden Solidarität und Hilfsbereitschaft bewirkt, mit der jeder Notleidende oder Flüchtling rechnen kann.
Bereits in der talmudischen Epoche, um die Zeitenwende, waren unsere Weisen der Meinung, dass für die Verwaltung und die menschenwürdige Verteilung der Hilfsmittel ein Gabbai, eine unabhängige, von seinen Mitmenschen geachtete Person als Beamter eingesetzt werden muss.
Er sollte die ihm anvertrauten Güter diskret den Bedürftigen zukommen lassen, damit keiner der Empfänger beschämt oder in seinem Stolz verletzt werde. Dazu bringt der Talmud (Gittin 7 b) eine Lehrmeinung: »Selbst der Arme, – der Zedakka, die ihm gebührende, gerechte Unterstützung, empfängt, soll selber anderen, noch Schwächeren Zedakka zukommen lassen.«
Ich meine, dass diese Aussage uns verdeutlichen will, dass auch der Hilfeempfänger ein Teil einer auf soziale Gerechtigkeit bedachten Gesellschaftsordnung ist und bleibt, seine Wohltäter und Helfer ihn aus der Gesellschaft nicht ausgrenzen können oder wollen.
Ein späterer Rabbi verwendete diesen Toravers, um durch seine Exegese ein be-sonderes Charakteristikum der Spender zurechtzurücken. Er weist darauf hin, dass, wenn jemand von weit her in eine Stadt, in eine jüdische Gemeinde kommt, er dort als Unbekannter, Hilfloser sehr häufig von den großzügigen Spendern viel größere Unterstützung zu erwarten hat als die ortsansässigen Notleidenden. Deren Leid meint man – ungerechterweise – genauer einschätzen zu können. Deshalb wies der Rabbi auf den Toravers hin, in dem geschrieben steht: »Du sollst deine hilfreiche Hand deinem Bruder« – in deinem Wohnort – »nicht verschließen.«
Ein mittelalterlicher Toragelehrter erklärt, dass es zu einseitig wäre »Zedakka«, jene Werke der Gerechtigkeit, – wie die jüdische Bezeichnung für die »Wohltätigkeit« – lautet, nur den materiell Armen angedeihen zu lassen.
Es können sich im Leben mehrere Situationen ergeben, in denen selbst ein wohl-habender Mensch auf Hilfe angewiesen sein kann. Der »Sefer Hachinuch« erwähnt als Beispiel folgenden Fall: Wenn sich ein nicht gerade mittelloser Mensch seiner Geschäfte wegen in einer Stadt befindet, in der ihn keiner kennt und er würde einen kurzfristigen Kredit oder einen Bürgen benötigen, um seine Unternehmungen weiterzuführen, weil davon auch das Schicksal mehrerer seiner Mitarbeiter und auch ihrer Familien abhängig ist, oder aber ein Wohlhabender geriete in seiner eigenen Stadt in Schwierigkeiten, wo ihn zwar jeder kennt, jedoch keiner es für möglich hält, dass er gerade jetzt Hilfe nötig hätte.
In beiden Fällen, wie in vielen ähnlich gelagerten, betont der mittelalterliche Rabbi, dürfen wir ihm die »Zedakka«, die Hilfe nicht versagen. Zu letzterem Sachverhalt fand ich eine rabbinische Anekdote: »Rabbi Schimon Sofer, der längere Zeit in Mattersdorf und Krakau wirkte, sammelte einst für eines seiner Gemeindemitglieder, das überall im Ruf eines reichen Mannes stand und unerwartet zahlungsunfähig, auf jiddisch: ›pleite‹ war. Fast überall erntete der Rabbi nur Misserfolge, weil sich nahezu niemand den vermeintlichen Reichen als Bedürftigen vorstellen konnte. Jetzt verstehe ich den Bibelvers aus Mischle (Sprüche Salomon 22,22) erst recht, sagte der Rabbi. Dort las ich: ›Beraube nicht den Armen, weil er arm ist.‹ Ich dachte immer, dass man natürlich niemanden berauben dürfe, also weder Arm noch Reich. Und jetzt, da ich für einen unerwartet zahlungsunfähig gewordenen Menschen sammeln will, um ihm die selbstverständliche, mitmenschliche Hilfe angedeihen zu lassen, erlebe ich, dass niemand zu Spenden bereit ist. Die meisten Menschen wollen nämlich nicht glauben, dass der, der einst wohlhabend war, jetzt in Not ist. Es kommt also, wie im zitierten Bibelvers, fast einem ›Raub‹ an einem Armen gleich, wenn man einem Menschen in dieser Situation keine ›Zedakka‹ zukommen lassen will.«
Re’eh: 5. Buch Moses 11,26 bis 16,17