von Carsten Dippel
Nachrichten aus der Welt der Kunst erregen selten die Gemüter. In die Schlagzeilen schaffen es vielleicht höchstens einmal ein spektakulärer Kunstraub oder eine atemberaubende Ausstellung. Seit dem vergangenen Jahr ist das anders. Mit der sensationellen Versteigerung der »Berliner Straßenszene« (1913) des Expressionisten Ernst Ludwig Kirchner bei der New Yorker Herbstauktion von Christie’s brach plötzlich eine heftige Debatte über Raubkunst und Restitution auf. Es geht um bedeutende Kunstwerke, viel Geld und die dunklen Schatten der Vergangenheit.
Was war geschehen? Für 38 Millionen Dollar hatte Kosmetik-Erbe Ronald S. Lauder seine New Gallery in Manhattans Fifth Avenue um Kirchners bedeutendes Werk erweitert. Aufsehen hatte Lauder bereits mit der zu einem Rekordpreis erworbenen Goldenen Adele (1907) von Gustav Klimt erregt. Beide Werke waren zuvor aus deutschen und österreichischen Museen an die jüdischen Erben zurückgegeben worden. Spektakuläre Einzelfälle oder Teil einer »Restitutionsindustrie«? Dienen Museen plötzlich als Nachschubbasis für den internationalen Kunstmarkt, wie von manchem Kritiker befürchtet?
Plötzlich erinnert man sich eines Verbrechens, für das sich jahrzehntelang niemand so recht zu interessieren schien: der Kunstraub der Nazis im besetzten Europa. Sie hatten auf ihrem Beutezug zur großen Jagd nach Kunstschätzen angesetzt, Museen und private Sammlungen geplündert, jüdischen Besitz »arisiert«. Am Ende sollte alles im »Führermuseum« in Linz präsentiert werden – natürlich nur das, was nicht als »entartet« galt.
So richtig Bewegung in die Sache kam eigentlich erst nach der Öffnung der Archive hinter dem Eisernen Vorhang. Trotzdem dauerte es bis 1998, ehe sich 44 Staaten, unter ihnen auch die Bundesrepublik Deutschland, in der Washingtoner Erklärung dazu verpflichteten, »faire und gerechte« Lösungen in offenen Restitutionsfragen zu finden. Wirklich wachgerüttelt wurde die bundesdeutsche Politik wohl aber erst durch die Kirchner-Debatte.
Mit einer internationalen Konferenz hat das Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien (MMZ) diese Kontroverse nun zu Beginn der Woche aufgegriffen. Ein Beleg dafür, wie dringend der Bedarf an Aufklärung und Verständigung ist. Man wolle damit, so MMZ-Direktor Julius H. Schoeps, einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten, zugleich aber auch konkrete Lösungsvorschläge unterbreiten.
Konsens herrschte weitgehend darüber, dass dem legitimen Recht auf Restitution stattgegeben werden müsse. Ebenso, dass den Erben zusteht, mit ihren restituierten Objekten zu verfahren, wie es ihnen beliebt – eben auch einen Kirchner für viele Millionen Dollar zu versteigern. In der aufgeheizten Diskussion der letzten Monate war das nicht immer eine Selbstverständlichkeit, hatten doch einige Kommentatoren tief in die Kiste antijüdischer Stereotype gegriffen. Das Problem sieht man woanders. Um den Prinzipien der Washingtoner Erklärung von 1998 zu folgen, bedürfe es eines entsprechend transparenten Verfahrens, so Georg Heuberger, Vertreter der Jewish Claims Conference. Immerhin, die Verantwortlichen in der Politik und im Museumsbereich scheinen den Ernst der Lage erkannt zu haben.
Doch wie können angesichts der unterschiedlichsten Schicksale »faire und gerechte« Lösungen aussehen, die die Ansprüche der Erben ebenso berücksichtigen wie die Interessen der Museen? Jeder Fall, so wurde immer wieder betont, liege anders, bedürfe daher auch einer eingehenden individuellen Prüfung. Ab wann kann etwa eine »Veräußerung« als »verfolgungsbedingt« gelten? Was ist mit Kunstwerken, die im Exil verkauft wurden, um die bloße Existenz zu sichern? Welche Rolle spielten Galeristen? Ist ein im besetzten Paris gekauftes Bild ein »rechtmäßiger« Erwerb?
Historisch, vor allem aber juristisch schwer zu klärende Fragen. Zumal das Problem nicht nur Deutschland betrifft. Provenienzforschung sei daher dringend nötig, mahnt Schoeps. Der Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Martin Roth, warnt jedoch davor, diese gewaltige Aufgabe zu unterschätzen. Die Recherche von Provenienzen sei äußerst kostspielig, erfordere Geduld und beanspruche viel Zeit. Hier sieht man dringenden Handlungsbedarf. Sein Vorschlag: die Museen mit Fonds oder auch Darlehenskonten auszustatten. Die notwendigen Recherchen seien auf diese Weise gesichert, und in dringenden Fällen könnte sogar der drohende Verlust eines Kunstwerkes abgewendet werden.
Nicht jede Restitution, so berechtigt der Anspruch auch sei, müsse automatisch Rückgabe bedeuten. Roth erkennt hier genügend Spielraum für alternative Lösungen. Durch einen Rückkauf oder eine Dauerleihgabe könne etwa das für eine Sammlung bedeutende Bild im Museum verbleiben.
Hätte man einen Ausgleich mit der Erbin gesucht, würde Kirchners Ikone vielleicht noch immer im Berliner Brücke-Museum hängen. Man weiß es nicht, und den Kunstbegeisterten weltweit mag es letztlich egal sein, wo man das Gemälde sehen kann. Zweifellos ist die Restitutionsproblematik jedoch eine schwierige Materie, die viele Facetten hat. Die Konferenz war in dieser Hinsicht ein Plädoyer für mehr Sensibilität und ernsthaftes Engagement aller Beteiligten.