In den 80er-Jahren wurde in München das neue Seniorenheim der Israelitischen Kultusgemeinde in Betrieb genommen. Das Haus musste sein Eigenleben entwickeln. Vorstandsmitglieder der Gemeinde, Angestellte und Angehörige der Heimbewohner zerbrachen sich in allzu langen Sitzungen ihre Köpfe, wie man die Abläufe und Bedingungen optimal gestalten könnte. Eine Frau ließ sich von diesen Debatten nicht beeinflussen. Stattdessen besuchte sie, so oft es ihre Zeit zuließ, das Seniorenheim und half, wo sie gebraucht wurde. In der Küche, im Büro und in den Hausgängen, die immer wieder gereinigt werden mussten. Sie tat dies unaufgefordert und unauffällig. Heimbewohner und ihre Familien lernten die ständige Hilfsbereitschaft der Besucherin schätzen.
Wenige Jahre später erzielte Charlotte Knobloch bei den Wahlen zum Vorstand der Kultusgemeinde 1987 mit Abstand die meisten Stimmen, obgleich sie im Gegensatz zu anderen Kandidaten keinerlei Werbung für sich gemacht hatte. Zunächst hatte Knobloch nicht daran gedacht, sich um ein Mandat zu bewerben. Erst auf Zureden von Bekannten und Gemeindemitgliedern entschloss sie sich zur Kandidatur, zumal ihre zwei Töchter und ihr Sohn damals bereits ihr Studium beendet hatten. »Die Erziehung meiner Kinder war mir immer das Wichtigste«, betont Charlotte Knobloch. »Nun hatte ich mehr Zeit, mich auch dem Allgemeinwohl zu widmen.« Die Veteranen der Gemeindepolitik waren zunächst ratlos, wie sie die Newcomerin einbauen sollten. Charlotte Knobloch dagegen hielt sich nicht mit Taktieren auf. Da sie die meisten Wählerstimmen erhalten hatte, war sie bereit, die Führung der Gemeinde zu übernehmen. Dieses natürliche Selbstbewusstsein überzeugte die meisten Herren im Vorstand, ihr eine Chance einzuräumen. Knobloch nahm die Herausforderung an und bewältigt sie seit nunmehr 20 Jahren souverän.
Ihr Geheimnis ist eine nie versagende Energie. Ab sieben Uhr morgens ist sie für jeden Anrufer erreichbar. Eine Stunde später beginnt ihr offizieller Arbeitstag. Sie nimmt bis Mitternacht durchgehend Termine wahr. Kein krankes Mitglied der Gemeinde, kein Sterbender, kein in Not Geratener muss um Hilfe nachsuchen. Knob- loch erfährt es. Und sie hilft, wo sie kann, zumindest organisiert sie Unterstützung. Dies alles geschieht wie einst und teilweise heute noch im Seniorenheim der Gemeinde: unaufgefordert und gut gelaunt.
Charlotte Knobloch verbreitet fast stets positive Stimmung. Bei Auseinandersetzungen in der Gemeinde oder in anderen Gremien verliert sie nie die Nerven und setzt gerade deshalb geduldig ihre Ziele durch. Dabei ist sie stets für Ratschläge offen. Bis tief in die Nacht diskutiert sie mit Vertrauten über die besten Wege, notwendige Maßnahmen durchzusetzen.
Ihr Schicksal, als jüdisches Kind an der Hand ihres Vaters die Schrecken der Pogromnacht – die brennenden Synagogen, die verfolgten und misshandelten Menschen – erleben zu müssen, später über Jahre in einem fränkischen Dorf versteckt zu sein, haben Spuren in ihrer Psyche hinterlassen. Doch brechen ließ sie sich nicht. Im Gegenteil. Not und Verfolgung stärkten ihren Willen und ihre Fähigkeit, rasch und zielsicher zu entscheiden. Das musste auch ihr Vater, der Münchner Rechtsanwalt und Notar Siegfried Neuland, erfahren. Mit 15 verliebte sich Charlotte in den Holocaust-Überlebenden Samuel Knobloch. Obgleich der besorgte Vater alles tat, um sie von dem fremden Mann wegzubringen, bestand die Tochter auf ihren Gefühlen. Kaum 18-jährig heiratete sie ihren Auserwählten.
Nach Samuel Knoblochs Tod 1990 konzentrierte dessen Witwe Kraft und Zeit auf ihr Amt. Unter Knoblochs Führung wurde München zu Deutschlands Mustergemeinde. Die Vorsitzende begriff freilich, dass es damit nicht getan war. Zielstrebig arbeitete sie darauf hin, dass die über die Stadt verstreuten, meist in Hinterhöfen untergebrachten Einrichtungen der Gemeinde fortan im Herzen der bayrischen Metropole angesiedelt wurden.
Ihr hohes Prestige ließ Charlotte Knobloch auch im Zentralrat, dem Führungsgremium des hiesigen Judentums, stetig vorankommen. Ignatz Bubis ernannte Knob- loch zu seiner Stellvertreterin. Ihr Hauptaugenmerk aber galt und gilt nach wie vor ihrer Münchner Heimatgemeinde. Dort wurde am 9. November 2006 die Synagoge des neuen Gemeindezentrums im Herzen der Stadt eingeweiht. Dies geschah unter reger Teilnahme der Bevölkerung sowie in Begleitung der Repräsentanten von Staat und Gesellschaft, an ihrer Spitze Bundespräsident Köhler. Dabei betonte Charlotte Knobloch, mittlerweile Präsidentin des Zentralrats der Juden: »Wir haben gebaut, um hierzubleiben!« Ein Triumph des 2000 Jahre alten deutschen Judentums, aber auch ein Triumph der Freiheit Deutschlands über die Unmenschlichkeit, die von dieser Stadt einst ihren Ausgang nahm.
Knobloch weiß, dass das Leben der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland keine Schönwetterveranstaltung ist. Nicht nur aufgrund der traumatischen Vergangenheit. Auch in der Gegenwart heben die Vorreiter und Mitläufer der Barbarei, der Judenfeindschaft und des Rassismus wieder ihre Köpfe. Attentate, etwa in München und Düsseldorf, Angriffe und Schmähungen sind an der Tagesordnung.
Charlotte Knobloch lässt sich davon nicht beirren und schon gar nicht einschüchtern. Deutlich fordert sie die verantwortlichen Politiker, Journalisten und Pädagogen zum Handeln auf. Guter Wille und Gesetze genügen nicht, man muss sie auch in aller notwendigen Schärfe und Konsequenz anwenden.
Charlotte Knobloch wird die Ehrungen und Glückwünsche zu ihrem 75. Geburtstag am 29. Oktober wie immer gelassen entgegennehmen. Sie denkt gar nicht daran, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Ihre Freude an neuen Herausforderungen und ihre gute Laune sind ebenso ungebrochen wie ihre unerschöpfliche Energie.
Geburtstag