von Ruth Wolf
Kann ein biblisches Buch zugleich so etwas wie ein Beziehungsratgeber sein? Auf das Hohelied Salomos, das erst kürzlich wieder am Schabbat »Chol Hamoed Pessach« in den Synagogen gelesen wurde, trifft beides zu.
Es ist unklar, ob es sich beim Hohelied um eine säkulare Liebesdichtung handelt, oder ob es von Anfang an als Allegorie zu verstehen war. In der jüdischen Tradition wird das Hohelied – das Schir Haschirim – als Sinnbild des Verhältnisses zwischen Gott und Israel interpretiert.
Rabbi Abraham ben David (Baalei haNefesh) betont: »Also soll ein Mann seine Frau lieben wie sich selbst, er soll sie achten, ihr gegenüber barmherzig sein und sie so schützen, als wäre sie ein Teil seines eigenen Körpers; in gleicher Weise soll sie ihm dienen, ihn achten und ihn so lieben wie sich selbst, denn von einem Mann wurde sie genommen.« Die hier hervorgehobenen Eigenschaften sind Liebe, Achtung, Barmherzigkeit und Schutz – Werte, die auch für die enge Freundschaft zweier Menschen gelten. Das Verhältnis zwischen Mann und Frau ist sowohl physisch als auch spirituell. Wobei die Betonung auf der Pflicht der Ehepartner liegt, einander zu achten und füreinander zu sorgen.
Im Hohelied (2,6) sagt die geliebte Frau: »Seine Linke liegt unter meinem Kopf, seine Rechte umfängt mich.« Dieser Vers drückt nicht nur die körperliche Berührung aus, sondern hebt Eigenschaften hervor, die sich auf die Verwirklichung und Erfüllung der Liebe zwischen Freunden beziehen, das Gefühl von Wärme, Unterstützung, Sicherheit und Dazugehörigkeit.
Das Hohelied enthält eine reiche Körper-Metaphorik: »Braun bin ich, doch schön ... wie die Zelte von Kedar, wie Salomos Decken« (1,5); »Rote Bänder sind deine Lippen« (4,3); »Schön bist du, meine Freundin, ja, du bist schön. Zwei Tauben sind deine Augen« (1,15). Es gibt auch Passagen, die die Stärke und äußerliche Schönheit des Liebhabers schildern: »Seine Schenkel sind Marmorsäulen, auf Sockeln von Feingold« (5.15), »Fort, fort, mein Geliebter, der Gazelle gleich, dem jungen Hirsch auf den Balsambergen« (8,14). Diese bildhaften Passagen betonen die Motive des Begehrens und der Schönheit, die in der Liebe wichtig sind.
Das Hohelied beschreibt die Leidenschaft eines Mannes und einer Frau, die ineinander verliebt sind. Gleichzeitig aber erwähnt das Hohelied ausdrücklich den Wunsch der Geliebten, den Erwählten ihres Herzens in das Haus ihrer Mutter zu führen, um das Liebesverhältnis zwischen ihnen zu einer reifen und familienorientierten Erfüllung zu bringen: »Führen wollte ich dich, in das Haus meiner Mutter, die mich erzogen hat« (8,2).
Zwischen den Versen, die das Liebesspiel umschreiben, sind Verse eingestreut, die sich auf die tiefere Bedeutung des Verhältnisses zwischen Liebenden beziehen: »Ach, wärst du doch mein Bruder« (8,1). Hier findet die gereifte, emotionale Liebe Ausdruck, die nicht ausschließlich an die körperliche Anziehung gebunden ist. In dieser Liebe sucht die Frau ein brüderliches Verhältnis mit ihrem Freund, ein Verhältnis von besonderer emotionaler Nähe.
Hand in Hand mit der einzigartigen Schilderung der Schönheit der Liebenden gehen Bilder, die ihr inneres Wesen widerspiegeln. »In seinem Schatten begehre ich zu sitzen« (2,3) drückt seitens der Geliebten die Erwartung an den Freund aus, daß er Schutz und Stärke bietet. Die Wahrnehmung des Geliebten als Beschützer steckt auch in dem Bild: »Meinem Geliebten gehöre ich, und mir gehört der Geliebte, der in den Lilien weidet« (6,3). Der Geliebte nimmt sich wie ein Hirte seiner Herde an und wird als jemand gesehen, der seine Herde leitet und um ihr Wohlergehen besorgt ist. So erkennen wir, daß Schönheit und physische Kraft allein für die Liebe nicht ausreichen. Das innere Wesen der Liebenden – die Rolle, die sie füreinander einnehmen – ist ebenso bedeutsam.
Die Parameter, die im Hohelied Aspekte einer Paarbeziehung bezeichnen, sind solche, die auch in der psychologischen Literatur aufgestellt werden. Der Psychologe Abraham Maslow zum Beispiel unterstreicht, daß es ein grundlegendes menschliches Bedürfnis ist, zu lieben und geliebt zu werden – ähnlich dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit, Anerkennung, Sicherheit und Selbstverwirklichung. Andere Psychologen bekräftigen die Rolle der Kommunikation bei der Herausformung einer echten Liebesbeziehung. Für sie bedeutet Intimität die offene und ehrliche Kommunikation eines Paares miteinander. Unausgesprochene Erwartungen zu hegen und Informationen zu verbergen schadet einer Beziehung. Das Gefühl von Nähe und Zuneigung zwischen Partnern stellt sich dann ein, wenn man offen ist, sich aufeinander verläßt und Vertrauen zueinander hat.
Ehepartner sollten zuallererst Freunde sein. Diese Freundschaft gründet in einem Verhältnis gegenseitiger Achtung, in dem jeder Partner sein eigenes Selbstwertgefühl wahrt und gleichzeitig das Selbstwertgefühl des anderen schont. Eine gesunde Kommunikation ist möglich, wenn jeder sich seiner eigenen Bedürfnisse und seiner Einzigartigkeit bewußt ist und seine Wünsche innerhalb der Partnerschaft verwirklicht.
Psychologen empfehlen Ehepaaren, die Sprache des Herzens zu sprechen. Manche Paare würden diese Sprache mit Schwäche gleichsetzen. Viele Paare kommunizieren nur intellektuell, über das Denken und Erkennen, miteinander und beachteten die Sprache des Herzens – ihre Gefühle – nicht. Diese Art von emotionaler Kommunikation bindet ein Paar enger aneinander. Zu ihr gehört, daß man die eigenen Gefühle mit dem anderen teilt, gleichgültig ob diese Gefühle angenehm oder unangenehm sind. Der andere kann auch über Gefühle verstanden werden.
Romantische Liebe kann entstehen, wenn es zwischen den Partnern Gemeinsamkeiten gibt und Freundschaft sie verbindet. Parameter wie die Fürsorge für den anderen, Achtung voreinander, dem anderen zu geben und ihn zu unterstützen sind für die Entstehung und die Aufrechterhaltung der Liebe eines Paares wesentlich.
Ein Leben des Miteinander-Teilens ist möglich, wenn zwischen den beiden Verbundenheit herrscht. Freundschaft, Achtung, Gegenseitigkeit, Gleichheit, Aufrichtigkeit und andere Eigenschaften stellen diese Bindung her. Dieses Gefühl, diese Verbundenheit erfordern Arbeit. Man muß in eine Beziehung investieren. Es steht in der Bibel: »Darum verläßt der Mann Vater und Mutter und bindet sich an seine Frau, und sie werden ein Fleisch« (1. Buch Moses 2,24). Dieser Bund, den die Bibel so beschreibt, daß sich der Mann an seine Frau bindet, ist die Hauptbedeutung der Liebe, und die Kraft, zu geben, ist das entscheidende Moment dieses Bundes. Die Fähigkeit, zu lieben, ist die Fähigkeit, zu geben, einander zu beschenken.
Mann und Frau bilden eine einzige vollkommene Einheit: »Rabbi Eleasar sagt: Ein Mann ohne Frau ist kein Mensch, denn es wurde gesagt, ›Als Mann und Frau erschuf Er sie, und Er gab ihnen den Namen Mensch‹« (Jewamot 63a). Die Ganzheit wird durch gegenseitige Zugeständnisse ermöglicht – verbunden mit einer gleichzeitigen Wahrung der Individualität jedes Partners innerhalb der Beziehung. Geschrieben lange vor den Untersuchungen der Liebe in der modernen psychologischen Literatur, schenkt uns das Hohelied ein einzigartiges Bild der reifen Liebe.
Die Autorin unterrichtet an der Bar-Ilan-Universität in Ramat-Gan/Israel. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Fakultät für Jüdische Studien, www.biu.ac.il