von Wladimir Struminski
»Kritisch, aber stabil« – diese Floskel kennen die Israelis nur zu gut. So nämlich definierten Ärzte den Zustand Ariel Scharons, nachdem der damalige Premier vor fünfzehn Monaten im Koma versank. Jetzt hat die Tageszeitung Jediot Achronot zu einem makabren Vergleich gegriffen. Mit den Worten »Kritisch, aber stabil« überschrieb das auflagenstärkste Blatt des Landes einen Beitrag über die politischen Überlebenschancen des Scharon-Nachfolgers Ehud Olmert. An dieser Deutung könnte etwas dran sein. Immerhin hat Olmert trotz der vernichtenden Kritik, die die Kriegsuntersuchungskommission an seinem Verhalten während des Libanonkrieges geübt hatte (vgl. Jüdische Allgemeine vom 3. Mai), die erste Woche nach seiner Verdammung einigermaßen überstanden.
Als Olmerts größte Stärke erwies sich die Schwäche seiner innerparteilichen Gegner. Außenministerin und Parteifreundin Zipi Livni forderte Olmert zwar zum Rücktritt auf, blieb aber trotzdem Mitglied seiner Regierung und gelobte Kooperationsbereitschaft. Am Montag dieser Woche empfing sie den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier und ging ihren sonstigen Amtsgeschäften nach, als wäre nichts gewesen. Damit hat sie ihren Ruf als einer der wenigen integren Sterne am politischen Himmel Israels zum größten Teil verspielt. Schimon Peres wiederum erklärte, er wolle gern der nächste Premier werden, mochte sich aber an Olmerts Sturz nicht beteiligen. Bauminister Meir Schitrit zeigt sich zuversichtlich, im Falle einer Vorsitzenden-Wahl siegen zu können, hielt sich von der Rebellion aber ebenfalls fern.
Auch die öffentlichen Straßenproteste haben keine klare Stoßrichtung. Die Linke möchte, dass der Premier seinen Sessel räumt, die Koalition aber fortbesteht. Dagegen pocht die Rechte auf Neuwahlen. Die Siedlerbewegung sieht eine Chance, sich an Olmert für die führende Rolle zu rächen, die er vor zwei Jahren bei der Räumung des Gasastreifens spielte. Unter diesen Umständen verpuffte selbst die Anti- Olmert-Kundgebung in Tel Aviv vom vergangenen Donnerstag trotz 150.000 Demonstranten wirkungslos.
Damit ist der Premier aber noch nicht aus dem Schneider. Gefahr droht ihm gegenwärtig vor allem von Seiten der Arbeitspartei. Am letzten Wochenende hat deren Chef Amir Peretz seinen Rücktritt vom Posten des Verteidigungsministers für Ende Mai angekündigt. Offiziell begründete Peretz seinen Schritt nicht mit der scharfen Kritik, die die Winograd-Kommission auch an ihm geübt hat, sondern mit dem Wunsch, Finanzminister zu werden. Diese wahrscheinlich illusorische Begründung ändert aber nichts daran, dass mit Peretz der zweite Hauptversager des Libanonkriegs seinen Hut nehmen will. Den Anfang hatte bereits im Januar Generalstabschef Dan Chalutz gemacht. Chalutz war nicht gewillt, sich durch die Kommission aus dem Amt fegen zu lassen.
Jetzt bleibt Olmert der Einzige, der stur an seinem Sessel klebt. Das gibt seinen Kritikern neue Munition – auch in den für die öffentliche Meinungsbildung entscheidend wichtigen Medien. Zudem dürfte Peretz in zweieinhalb Wochen als Parteichef abgewählt werden. Seine beiden aussichtsreichsten Gegenkandidaten, Ehud Barak und Ami Ajalon, haben bereits angekündigt, in eine Regierung Olmert nicht eintreten zu wollen. Damit müsste sich die Kadima-Partei entscheiden, ob sie ihren Chef entsorgt oder sich einer vorgezogenen Knessetwahl stellt. Für viele in der Arbeitspartei steht fest: Angesichts der katastrophalen Umfragewerte verzichtet Ka- dima lieber auf Olmert als auf die Macht. Wie verzweifelt der Premier nach Luft schnappt, zeigt auch sein Angebot an den Likud, die Arbeitspartei notfalls als Koalitionspartner zu ersetzen. Dieses Angebot schlug Benjamin Netanjahus Partei Anfang der Woche jedoch aus.